BAD RELIGION - THE PROCESS OF BELIEF
"The Process Of Belief" hatte praktisch ab der ersten Sekunde einen schweren Stand. Zum einen spukten "The New America" und vor allem "No Substance" noch ausgesprochen unangenehm im Frontallappen herum und reiherten auf sämtliche meiner blank liegenden Nervenenden, zum anderen befand sich Herr Dreikommaviernull, und das muss man so deutlich sagen, beim Release des Albums im Januar 2002 eigentlich schon auf dem direkten Weg ins Jenseits. Seit einem halben Jahr schluckte ich jeden Tag die Maximaldosis Diclofenac wegen unerklärlicher Rückenschmerzen, schlief kaum noch und wurde zusehends kraftloser und vor allem blasser. Um mich herum wurde das Leben immer trostloser. Es war dunkel im Winter 2002. Zwei Monate später wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 3 ins Krankenhaus eingeliefert. Der Krebs war zurück - und die Musik verstummte. Ich ertrug in dieser Zeit praktisch nichts, was auch nur einen kleinen Pieps machte, und die Aussicht, vermeintlich halbsteifen Punkrock aus dem sommerlichen Los Angeles zu hören war aus mehreren Gründen unvorstellbar.
Jedes Hören von "The Process Of Belief" legt auch zwanzig Jahre später noch den bleischweren Mantel jener Zeit über meine Schultern und zaubert kleine und überaus eklige Erinnerungsblitze aus dem Unterbewusstsein in die Gegenwart. Das Licht im damaligen Haus im Niemandsland zwischen Wiesbaden und Limburg. Der Geruch im Krankenhaus. Selbst dieses halbtote, blutleere Gefühl meines auf dem absolut letzten Rest Notstromenergie dahindämmernden Körpers fährt mir manchmal zurück in die Glieder. Es. Ist. Nicht. Schön.
Das Album komplett losgelöst von meiner damaligen Existenz zu bewerten, erscheint unmöglich. Ich hielt in den letzten zwanzig Jahren allerdings auch (wenig überraschend) einen gewissen Sicherheitsabstand zu "The Process Of Belief" ein und hatte es in der Diskografie im letzten Drittel einsortiert, wohlwissend, dass viele eingefleischte Fans zum einen die Rückkehr des verlorenen Sohns Mr.Brett, zum anderen die im Vergleich zu "The New America" wiedergefundene Schärfe und Geschwindigkeit feierten. Tatsächlich klingen Bad Religion hier wieder deutlich mehr nach ihrer pre-"No Substance"-Phase: das rasante Einstiegstriple ist sofort ein dickes, mit 300bpm gekritzeltes Entschuldigungsschreiben und auch im weiteren Verlauf war der Fünfer wieder deutlich mehr von der Muße geküsst als zuletzt: "Kyoto Now" hat in Musik und Worten wieder das erfreuliche Überhangmandat zu dieser unwiderstehlichen Kraft dieser Band, "Epiphany" ist trotz des Abstechers ins bräsige Alternativerock-Abwasser das melodisch stärkste Stück der Platte (und dabei viel besser als das immer noch ziemlich unerträgliche "Broken") und der Rausschmeißer "Bored & Extremely Dangerous" erinnert an typische, leicht gräulich schimmernde und herausragende Abschlusstracks wie "Skyscraper", "Markovian Process" oder "Walk Away".
Meine Lieblingsplatte wird das alleine aus den eingangs erwähnten Gründen nicht mehr, aber ich kann mich immerhin zu folgenden Urteil hinreißen lassen: das ist eine gute Platte.
Erschienen auf Epitaph, 2002.