17.04.2009

Außer Japan Nix Gewesen


Disc System Meets Inner Science - s/t

Besser hätte der Projektname im Grunde nicht passen können. Die Oberfläche, das stählerne System frisst sich in die Tiefe, ins Innere und entdeckt dort wieder und wieder...sich selbst. Das japanische DJ-Duo Disc System trifft auf Inner Science aka Masumi Nishimura und damit auf ein (ehemaliges) Mitglied der Hip Hop Szene Tokyos. Gemeinsam bündeln sie viele verschiedene Ansätze elektronischer Musik zu einem großen Ansatz elektronischer Musik.

Ihr Sound steht nicht in Reihe, er ist die Reihe. Hier findet sich so ziemlich alles: von aufgekratzten Frickelbeats zu dicken Hip Hop-Stampfern, von ätherischen Boards Of Canada-Sounds zu flickigem Four Tet-Geklimper, von der durchschreitenden Techno-Bassdrum zu wärmenden Sci-Fi Ambientflächen. Das macht Spaß zu hören, vor allem ob der hörbaren Abenteuerlust, die das Trio zu jeder Sekunde durchblinzeln lässt. Dabei ist das Album gar nicht so heterogen, wie die Aufzählung der unterschiedlichen Elemente möglicherweise vermuten lässt, was an der deutlich wahrnehmbaren Soundzäsur zwischen der A- und B-Seite liegen mag (auf der letztgenannten lässt man es durchaus relaxter und introvertierter angehen), aber sicher auch dem Bestreben geschuldet ist, eine gemeinsame Stimme zu finden, die diese Musik zusammenhält und ihr die Türen öffnet, auf der anderen Seite ihr aber auch die Grenzen zeigt.

Das ist wichtig und das ist ihnen ganz ausgezeichnet gelungen.



"Disc System Meets Inner Science" ist im November 2007 auf ROMZ RECORD (Japan only) erschienen und wurde am 13.2.2009 von Project: MoonCircle auf Vinyl weltweit veröffentlicht. Zu beziehen unter diesem Link.

13.04.2009

Fleckenteufel


Gene Coleman/Franz Hautzinger/Sachiko M/Otomo Yoshihide - Concert in St.Louis

Wer das Getöse überhört, den stört die Ruhe nicht. Seismographischer Wert: 10,6 (gefühlt), 0,9 (wissenschaftlich, streng). Die Wissenschaft der Stille, ein freies Spiel mit Nuancen, Brisen, und...Höllenschlunden. Und -qualen. Tiefe, weit aufgerissene Mäuler, die den Pesthauch auf dem Silbertablett (im Ohrensessel) servieren. 

Unangenehme Musik. Silence my ass, "Concert In St.Louis" dreht am Ängste-Lautstärkeknopf und das ist furchteinflößender als sägendstes Geratter. Gene Coleman spielt seine Bassklarinette, wie ein Zwei-Meter-Grizzly atmet. Er schnaubt, er balanciert zwischen unerhörter Kraft und einer natürlichen Scheu. "Übrigens, ich bin da. Ich habe das hier alles im Griff. Und wenn ich ein einziges Mal die Pranke hebe, fliegt dein Kopf weg." Ich mach' besser mal ein bisschen leiser. Noch leiser? 

Ich teile die Auffassung nicht, dass das hier alles einem relaxenden Ringelpiez gleicht. Sachiko M weiß schon ganz genau, welcher Regler auf Anschlag stehen muss, damit die Ohrflusen den Rückzug ans Großhirn funken. Ja sicher ist das leise. Aber es tut weh. Und wenn es wehtut und der Schmerz trotzdem nicht spürbar ist, dann beginnt die Suche, nicht? Die zwei Improvisationen, aufgenommen im Jahre 2002 in - Überraschung! - St.Louis sind ausgesprochen abstrakt zusammengefügte, in Jetztzeit geflackerte Formen, Noise, Slow Noise. Ha, apropos Formen...geht es um Formen? Um Umrisse? Genauer: um EINE Form und EINEN Umriss? Die Struktur, die aus den knarzenden Gitarrensaiten von Otomo Yoshihide springt, das süße, unendliche Klingeln vom Sinus-Unrat Sachiko Ms, die hektischen Trompetenwespen...? Das macht ja was mit einem. Das malt Bilder, das dreht Filme, das säuselt Krach. Es geht nicht um die 65 Minuten Musik. Es geht nicht um ein Statement. Es geht nicht um das, was es sein soll. 


"Concert In St.Louis" von Gene Coleman/Franz Hautzinger/Sachiko M/Otomo Yoshihide ist im Jahr 2004 bei GROB erschienen.

11.04.2009

Neunziger (1)


Revolver - Baby's Angry

Vermutlich ist eine ganze Generation junger Menschen Rock Hard-Herausgeber Holger Stratmann auf ewig dankbar, dass er die Grunge/Alternative/Crossover-Welle zu Beginn der neunziger Jahre nach Deutschland schwappen ließ. Jane's Addiction, Mudhoney, Nirvana, Rage Against The Machine: Stratmann berichtete darüber, während eine Bürotür weiter Death Metal auf den Thron geschrieben wurde und man sich ein Magazin weiter noch mit Guns'n'Roses befasste. Aus heutiger Sicht noch unvorstellbarer: auf sein Urteil war Verlass. So endete seine Plattenbesprechung zum Debut von Rage Against The Machine mit der Aussicht "Demnächst garaniert in jeder guten Alternative-Zappelbude" und potzblitz: der Kram lief zwei Monate später sogar in jeder schlechten Alternative-Zappelbude.

Genau in jener Zeit erschien mit "Baby's Angry" das Debut der Londoner Band Revolver und es war erneut Stratmann, der hektisch mit dem Zeigefinger wedelte. Zwar verirrte er sich diesmal in seinen Ausführungen wenig nachvollziehbar in Richtung Nirvana und The Police (sic!), möglicherweise war es aber genau das, was ich als damals 15-jähriger Cobain-Fan lesen und vor allem hören wollte. Seitdem gehört "Baby's Angry" zu meinen wertvollsten Schätzen.

Der melancholische, dramatische Gitarrenrock des Trios ist einerseits musikalisch geprägt von punkigen Vibes und gar noisigen Ausbrüchen ("Molasses"), die jedoch von großen, romantischen Melodien in Schach gehalten werden und vermittelt gleichzeitig genau durch diese Gegensätze auch ein emotionales Stimmungsbild der damaligen Zeit. Andererseits standen Revolver ebenso in der Tradition britischer Legenden wie beispielsweise den Smiths, The Cure, My Bloody Valentine oder The Jesus And Mary Chain, weshalb die Band nicht selten in die Shoegazer-Schublade einsortiert wurde. 

Nach dem nicht minder großartigen "Cold Water Flat" (1993) löste sich die Band auf. Sänger/Gitarrist Mat Flint gründete in den Folgejahren mit Hot Rod und Death In Vegas weitere Formationen, während Basser Hamish Brown und Schlagzeuger Nick Dewey von der Bildfläche verschwanden. 


"Baby's Angry" von Revolver ist im Jahre 1992 auf Caroline Records erschienen.

04.04.2009

Garden Of Eden


Alice Coltrane - Journey In Satchidananda

Jazz ist Nischenmusik. Und in dieser Nische gibt es womöglich hunderte kleiner Extranischen, die sich jeder für sich selbst eingerichtet hat. Das ist eben der Nachteil einer selbsternannten Elite: Konsens wird ganz schwierig. John Coltrane ist vielleicht einer, Miles Davis sowieso. Wer danach Gemeinsamkeiten finden will, muss an vielen Türen klingeln. Was sich bis zu dieser Stelle wie ein mies geschriebener Focus-Artikel zum Thema "Klopapier beidseitig benutzen, hot or not?" liest, ist in Wahrheit aus einer einzigen Frage entwachsen: warum ist Alice Coltrane derart off the map? Ist es das Lennon/Ono-Prinzip, die verhasste Ehefrau an der Seite eines musikalischen Giganten? Die Zeit schrieb anlässlich ihres Todes am 12.Januar 2007, ihre opulente, orchestrale Anlage sei wohl "zu sentimental, zu überladen für die klare männliche Linie der Improvisationskunst.". Tatsächlich sind Ihre Alben aus den späten sechziger Jahren und den frühen Siebzigern eine Abkehr vom mehr oder minder traditionellen Jazzkanon, der großen Wert auf eine gewisse Wendigkeit, eine Virtuosität legt. Sie bewegte sich nicht nur musikalisch mit ausufernden Sounds und einem dichten Klangteppich in die Fläche, sie schenkte ihrem Jazz mehr und offensichtlichere Spiritualität und machte ihn so wärmer und umarmender. "Journey In Satchidananda" ist diesbezüglich ein sehr herzliches, freundliches Beispiel.

Aufgenommen im Dezember 1970, versammelte Alice einige Stars der damaligen Zeit um sich: am Bass spielen Charlie Haden und Cecil McBee, Rashied Ali sitzt hinter dem Schlagzeug und Pharaoh Sanders, der sicherlich nicht ohne Grund eine "Featuring"-Extraerwähnung auf dem Cover erhielt, am Sopransaxofon. Hinzu kommen Tulsi (Tamboura), Vishnu Wood (Oud) und Majid Shabazz an "Bells & Tambourine". "Journey In Satchidananda" ist damit der Nachfolger zum unglaublichen "Ptah, The El Daoud" (aufgenommen im Januar 1970) und entwickelt den Sound folgerichtig einen oder gar zwei Schritte weiter. Wo auf dem Vorgänger noch Querverbindungen zum modalen Jazz der sechziger Jahre zu hören waren, und sei es nur durch das konventionelle Setting hinsichtlich der Instrumentierung, ist das folgende Album musikalisch flächiger, sanftmütiger, versöhnender. Dennoch: "Journey In Satchidananda" wäre ohne "Ptah, The El-Daoud" vermutlich nicht möglich gewesen. Die Wurzel...die Quelle, aus der sich dieses Album ergießt, ist deutlich zu hören. 

Besonders die zweite Seite mit den beiden Longtacks "Something About John Coltrane" (mit einem ergreifenden Cecil McBee) und dem fantastischen "Isis And Osiris" ist mir mehr als nur eine Erwähnung wert. Puristen mögen die Nase rümpfen und angesichts des dicht surrenden Tambouranebels, Coltranes Harfe, der fernöstlichen Einflüsse und der allgegenwärtigen glückseligen Harmonie im Oberstübchen das Wörtchen Kitsch zusammenbasteln, aber sie könnten nicht falscher liegen: Coltranes Spiritualität manifestiert sich eben nicht nur im reinen Klang. Sie ist beinahe stofflich greifbar, sie spricht, sie kommuniziert, auch ohne Worte. Sie ist von Liebe und Verständnis getrieben. Das ist aufrichtig und das muss so sein. 

Ein Seelenkosmos von Königen. 

31.03.2009

Nix Hält Mehr...

01 Grace Jones - Corporate Cannibal
"I don't want to say much more but - Grace Jones is in the house." Ein taufrisches Comeback nach über 20 Jahren, das die mittlerweile 60-jährige gebürtige Jamaikanerin in einem aufgerissenen Leopardenschlund feiert. "Corporate Cannibal" ist eine Sensation, ein angedubbter TripRockHopPop-Wahnsinn, sexy...geradewegs tödlich sexy. "I'll consume my consumers." Mami, ich hab' Angst!

02 Bullion - Get Familiar
Reichlich irreführend von einigen Tölpeln in die Portishead-Ecke gesteckt waren Bullion ein bisschen der 2008er Underground-Hit aus England: die Single zu "Get Familiar" war nach wenigen Tagen ratzeputz ausverkauft, und Gilles Peterson nahm den Song auf die dritte Ausgabe seiner Brownswood Bubblers-Zusammenstellung. Etwas verspulte Beats in leicht psychedelische Tinte getaucht, dazu Flying Lotus Marihuana in der Blutbahn. Zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden Kopfnicken.

03 Weezer - Pork & Beans
I hate fuckin' Weezer. Vielleicht die schlimmste Band der Welt. Ich fand die übrigens schon immer unsagbar schlimm. Und jetzt ist "Pork & Beans" so großartig, dass ich mir tatsächlich die Blöße gebe, das auch noch zuzugeben. "Die Bette Davis is' ja aach tot." Gna.

04 Stacy Epps - Floatin'
Ein aufgehender Stern am Soul und RnB-Himmel: Stacy Epps aus Atlanta hat 2008 mit "The Awakening" ein sehr spirituelles Debut veröffentlicht. Auch wenn mir die Platte insgesamt noch etwas unausgegoren erscheint, ist "Floatin'" ein rollendes Hip-Hop-Soulmonster mit einer prachtvollen Sonnenstimme, die das ganz bestimmte Funkeln, diesen kleinen, besonderen Kniff transportiert, der immer und überall aufhorchen lässt.

05 Four Tet - Ringer
Krautrock meets Elektrogefummel, und wer sonst wenn nicht Kieran Hebden wäre der passende Mann dafür? Der Aufbau des Titelstücks von Four Tets aktuellem Album sprengt mich aus meinem Sakko und reißt mir das geliebte rosafarbene Polohemd gleich mit von der Brust: acht Minuten klöppeln Sample-Fruchtzwerge einen Loop nach dem anderen zurecht, bevor ein kurzer Beatausbruch die Leitplanke an der A66 bedrohlich näher rücken lässt. Wenn schon Tinnitus, dann damit.

06 Henrik Schwarz And Amampondo - I Exist Because Of You
Zehn Minuten Groove und Extase von einer Hälfte des DJ-Duos Tiefschwarz zusammen mit der südafrikanischen Percussiontruppe Amampondo, die neben den Marimba und Djembe-Tribalgrooves außerdem noch die Vocals beisteuern. Ein überraschend behutsamer Aufbau, aber der Track läuft und läuft und läuft und läuft...solange die Füße (und die Europalette Red Bull) tragen. Sehr erfrischend und seeeehr mitreißend.

07 Warrior Soul - The Fourth Reich
Die nicht für möglich gehaltene Wiederauferstehung einer Legende. Trifft genau meinen Rocknerv: ein schweres, psychedelisches Megariff, eine Scheißwut in Kory Clarkes Stimme, ein Text, der für heutige Verhältnisse womöglich eine Spur zu kindisch oder meinetwegen naiv ist, aber mir aus allen verfügbaren Seelen schreit. Ich bin ja nicht ohne Grund noch mittendrin, in der Pubertät. 

08 Vladislav Delay - Recovery Idea
Selbst einer wie ich, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, merkt nach wenigen Sekunden, wer hier am Werk ist: Vladislav Delay, der mit "Whistleblower" das Album des Jahres 2007 veröffentlichte, haut seine Soundblitze und seine reißenden Schrammen über einen flockigen Beat und flechtet noch seine bekannten Synthieflächen nebst sanften Melodietupfern ins Gestrüpp. 

09 The Bronx - Minutes In Night
Mich hat das dritte Album der Punkrocker aus Los Angeles überraschenderweise nicht so hart gekickt wie die beiden Vorgänger (wobei: "II" brauchte auch einige Zeit, um sich zu entfalten), aber trotz des etwas müden Schleiers, der über "III" bisweilen liegen mag, hat das Quintett einige wunderbare Brecher aufgenommen. "Minutes in Night" ist einer davon. Ein übergroßer Refrain, ein großartiges, an "Rape Zombie" erinnerndes Gitarrenriff und dieser berüchtigte Schuss The Bronx-Wahnsinn in der Stimme.

10 Tribute To Nothing - Day In Day Out
Kumpel Olli legte mir die Scheibe der Briten mit den Worten "Wie Hot Water Music, nur besser" wärmstens ans Herz und ich fackelte nicht lange: mit Punkrock kann man nur ganz selten etwas falsch machen. Ich habe es nicht bereut und das liegt in erster Linie an diesem kleinen Songjuwel: "Day In Day Out" ist tatsächlich angenehm angerauhter und souveräner Punkrock, der zwar weder besonders heavy noch übermäßig aufsehenserregend ist, in besagtem Track aber all die Komponenten auffährt, die auch nach fünfzigfacher Behandlung noch immer für eine schöne Gänsehaut sorgen. Eine leidenschaftliche Stimme, die das angespannte und bebende Zittern nicht verbergen kann und will und ein Text, der mich vor meinem geistigen Auge schon wieder mit erhobener Faust vor dem Wasserwerfer stehen lässt. Blutdruck is rising.

28.03.2009

Platz 1


The Sea And Cake - Car Alarm

Es muss Sommer werden, ganz dringend. Meinetwegen tut's auch erstmal der Frühling, aber bitte: dieser Scheißwinter soll sich bitte mal ver....abschieden. Ich muss endlich wieder auf meinem Mikrobalkon sitzen/liegen/stehen/frühstücken/herumnachten und mir dabei zur wärmenden Sonne und zur lauen Sommernacht die schönste Musik um die Ohren wehen lassen, die es für solche Momente zu geben scheint. 

Ich hörte mich in den letzten Tagen durch so manches früheres The Sea And Cake-Album und musste in der näheren Auseinandersetzung das ein oder andere zu schroffe Urteil meinerseits revidieren, beispielsweise zur mittlerweile genügend rehabilitierten "One Bedroom" aus dem Jahre 2003, die selbst das graueste Grau eines Montags im März in ein perfektes Kaffeekränzchen an einem Sonntagnachmittag im August verwandeln konnte. Auch in anderer Hinsicht war es gut, sich nochmal eingehender mit der Band zu befassen; die Beobachtung der Weiterentwicklung des Bandsounds und der Arrangements über all die Jahre geriet recht eindrucksvoll und half dabei, das aktuelle, nunmehr achte Studioalbum der Band, entsprechend ein zu sortieren. Und man tut gut daran, "Car Alarm" zunächst etwas losgelöst vom sonstigen Oevre zu betrachten. Wenn Sänger/Gitarrist Sam Prekop schon über den letzten Geniestreich "Everybody" sagte "It's a rock album", dann ist "Car Alarm" zumindest streckenweise mindestens Hardcore. Enorm flüssiger The Sea And Cake-Hardcore, der einem zu Beginn fast unbemerkt durch die Finger rieselt.

Nach Beendigung der letzten Tournee begab sich die Band umgehend an die Arbeiten zu "Car Alarm", und das aus gutem Grund: der Schwung aus den vergangenen Monaten auf der Bühne und die damit bestens geölte Bandmaschinerie sollten unbedingt auf dem folgenden Album im Vordergrund stehen. Man experimentierte mit dieser Kraft und diesem Fluss und hatte in nur drei Monaten ein komplettes Album im Kasten, und der Einfluss dieser Arbeitsweise ist deutlich zu hören. Wenn ich schon über den Vorgänger schrieb, dass "ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, hier seine Vollendung findet", dann müsste ich mich nicht sonderlich schämen, purzelten mir ein Jahr später diese Worte nochmals aus dem Handgelenk. Auch wenn es diesmal etwas länger als gewohnt dauerte.

"Car Alarm" benötigte tatsächlich mehr Eingewöhnungszeit. Es gab gar Momente, in denen ich Songs wie dem furios lospreschenden Titeltrack ziemlich ratlos gegenüberstand. Oder das synthiepiepsige "Weekend", das mit seiner aufgedrehten Jungbrunnen-Art so gar nicht in den Kontext passen wollte. Erst nach einigen Wochen (und mehrfachen Kopfhörer-Sessions) wuchs "Car Alarm" nicht nur zusammen, sondern auch über sich hinaus: diese Gitarren! Diese unglaublich schönen Gitarren! Dieses Flirren! Dieses traumhaft sichere und souveräne Umschalten in andere Songdimensionen! Diese perlenden Melodietupfer von Archer Prewitt! Und vor allem: dieser Sound! Wie geil kann man klingen? Und wie geil kann man eigentlich zusammen spielen? Das Rhythmus-Duo mit Drummer John McEntire und Bassist Eric Claridge groovt, jazzt und filigranisiert sich durch luftige, federleichte Songnetze, die Gitarren von Prekop und Prewitt setzen darauf in Milimeterarbeit Melodien und Akkorde, die Prekop mit gewohnt leise hauchender Stimme gefühlvoll links oben unter die Latte nagelt. 

Es passt: alles. Und wer den immer wiederkehrenden Spruch, dass das gerade aktuelle The Sea And Cake-Album auch automatisch ihr bis dato bestes Werk sei nicht mehr hören kann/will, der höre stattdessen bitteschön "On A Letter", "New Schools" (inklusive Gitarrensolo!), "Window Sills" und "Pages" (!!!!!!!!). Danach dürften sich diesbezügliche Zweifel in Luft aufgelöst haben.

23.03.2009

Platz 2


Bill Dixon With Exploding Star Orchestra

Take your time, there is no time
Power and beauty 
You only have to open your life 
And listen.

The tension and tightness of now
He put horn to lips 
Played the most sublime 
Powerful sound. 

The church was going to crack 
Open and a million white birds 
Fly from his chest, leaving traces 
Gold and silver in the light-blasted sky. 

Eternity, in fact
One minute of sound 
Sound had penetrated the granite pillars 
For all of eternity.



Ein majestätischer Orkan, ein alles entwurzelndes Monster mit Stimmen so stark, dass sie den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie rumpelt und rempelt; eine Urgewalt, die sich rücksichtlos wie eine Gerölllawine ihren Weg bahnt. Ein unterirdisches Brodeln, feuerspuckende Lava-Zungen, Ascheregen.  

Und wenn der tosende Sturm vorüber scheint, sei auf der Hut. Bill Dixon holt sicher nur mal eben kurz Luft...For all of eternity.

17.03.2009

Platz 3


Move D & Benjamin Brunn - Songs For The Beehive

Nichts schwebte schöner im abgelaufenen Jahr. Nichts pumpte soviel Frohsinn und Mystik, nichts anderes solch geil-grelle Farben und Strukturen in die Welt. Ich habe keine Ahnung, was es ist, but it's fuckin' beautiful.

Techno, House, Ambient, Glitches, Clicks, Pop. Alles auf einem Haufen. Alles deep wie Hulle, vor Ergriffenheit schwer atmend, sich die schönsten Melodien aus den Rippen schnitzend, ist "Songs For The Beehive" das schönste Electronica-Album des Jahres. Alleine für den überlangen Abschlusstrack "Radar" könnte ich vor Freude in ein Gewässer Deiner Wahl pullern: kommt niemals nicht aus den Puschen, wabert wie einst der Trockeneisnebel um die dürren Storchenbeinchen von Nena (Musikladen 1983), wie von den Russenchinesenamieskimos abgefeuert und Richtung Uranus paddelnd, frei im Raum, entrückt, verrückt und ständig auf der Suche. 

Dann! Das Signal ist da. Gefunden, entdeckt, bezaubernd entzaubert. 

13.03.2009

Platz 4


Sonargemeinschaft & Fred Frith - Drift

Meine Meinung zu "Drift" hat sich seit dem September des vergangenen Jahres nicht grundlegend geändert; eher fielen mir im Rückblick und bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit den 70 Minuten improvisierter Musik einige neue Blickwinkel und Betrachtungen auf, die bislang (fast) verborgen blieben. 

Ich glaube, ich bin tatsächlich zu einem Fan von Dirk Raulfs Saxofon geworden. Er sorgt mit seiner Präsenz jederzeit für eine erstaunliche Opulenz einer eigentlich dürren Ausgangslage: gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Frank Schulte und dem britischen Gitarristen tastet er sich durch eine karge Landschaft mit kühlen Nebelschwaden und kräftezehrenden Treibsand. Egal wie leise Raulf auch spielen mag: wenn sein Ton erklingt, bekommen die Bilder einen Rahmen. 

Schultes Spiel mit Field Recordings und schleifenden Sounds, einer teils furchteinflößenden Klangcollage aus einem Nachtspaziergang am verlassenen Weiher, bietet jederzeit den passenden Boden für zunächst Raulfs aus brüllenden Wildtieren und kristallklaren, schwebenden Eiszapfen bestehenden Eskapaden, sowie später für die freie und brodelnde Gitarre eines Fred Frith. Als jener für das zweite Stück "All Aboard" zu dem Duo dazustößt, benötigt die Truppe spürbar einige Momente, bis sie sich gefunden haben, nur um nach wenigen Minuten ihren Spielplatz nicht nur in Beschlag genommen, sondern ihn schon in leuchtenden Farben angemalt und damit verschönert haben. 

Ein sehr buntes und spannendes Album, das sich bei jedem Hören an so mancher Stelle neu entfaltet, ja: neu erfindet.

"Abends, am See..."

02.03.2009

Platz 5


Warrior Soul - Chinese Democracy

Lange Blogeinträge interessieren kein Schwein. Okay, kurze auch nicht, aber sie sind unauffälliger.

Ich bin bekennender Reunion-Dooffinder. Das behauptet zwar auch jeder zweite Bloghonk, aber ich meine es ernst. Und ich bin natürlich der einzige, der es ernst meint. Weltweit. Dabei ist es mir egal, welche Band "es nochmal wissen" will, oder welche Kapelle von versoffenen Journalisten mit "Endlich mal eine Reunion, die Sinn macht!" geadelt (also beleidigt) wird. In glatten 10 von 10 Fällen handelt es sich bei dem Ergebnis der Bemühungen um unfassbaren Schrott. Man möge mir meine Direktheit verzeihen. Und bevor der erste Zwischenrufer sich ein Herz fasst: nein, es gibt keine Ausnahmen. "Stop your internal dialogue, you're wrong, get over it!" (B.Hicks). Im Vorfeld getätigte diesbezügliche Äußerungen auf diesem Blog verlieren damit übrigens ab sofort ihre Gültigkeit. 

Wenn nun also ein kleiner Hutzelzwerg namens Kory Clarke meint, er müsse unbedingt die in meinen Augen vielleicht größte Rockband aller Zeiten mit einer Handvoll schwedischer, schottischer oder mecklenburg-vorpommerscher Volln00bs reaktivieren, nachdem er seine Stimme nachweislich zwischen Tennessee, Bogotá und Marlboro-Country an einen rostigen Nagel gehängt hat, wenn also dieser uffgestummte Gaddezwersch wirklich der Meinung ist, die eh schon schwer gebeutelte Mutter Erde muss 12 Jahre nach der Auflösung des klassischen Line-Ups mit Johnny Ricco, Pete McClanahan und Mark Evans ein weiteres Warrior Soul-Studioalbum aushalten können, einer, der sich neben all dem Suff seinen Punkspirit (bitte was?! - Anm.d.Redaktion), seine Rebellion, seine Aufrichtigkeit bewahrt hat, und dem es allein schon aus diesem Grund doch unmöglich sein dürfte, dieses, pardon, Scheißprogramm tatsächlich und unter diesen Umständen (s.o.) durch zu ziehen, anstatt es halt auch mal einsehen zu können, dass einerseits alles eben ein Ende hat, und es andererseits und sowieso doch total schnafte ist, ein Vermächtnis in Form eines Backkatalogs im stillen Kämmerlein zu lagern, das nicht einen, aber auch nicht mal einen halben oder dreiviertlen schwachen Song beziehungsweise Ton ausweist, und der all dies schöne Lauschgold mit einer vermeintlichen und gemäß meiner obigen Ausführungen hundertprozentig vollends durchgeknallt-beknackten, lustlos hingestümperten und vor allem -geröchelten, sowie darüber hinaus quadratbekloppten Mistplatte mit einem Schlag zunichte machen will, dann sage ich ein klares und deutliches: scheißrein, warum eigentlich nicht?

Auf einer Skala von 0 bis 10 lagen meine persönlichen Erwartungen an ein neues Warrior Soul-Album folgerichtig bei einer eiskalten und letztlich optimistischen -7 mit sechs anhängenden Nullen. Wer noch ganz bei Trost war, machte sich spätestens nach dem 2007er Livealbum "Live In London" in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Staub. Und ich war glücklicherweise noch ganz doll bei Trost, sodass ich die Ankündigung von "Chinese Democracy" zwar ob des Titels kichernd, aber insgesamt mit noch weniger als einem Achselzucken kommentieren konnte. Zugegeben, der Absatz klingt ganz schwer nach "Mimimimi!", aber ich muss das so schreiben. Nicht aus einem popkulturellen Zwang heraus, ich meine das ernst. Warrior Soul sind und waren die größten für mich. Aber noch vor fünf Monaten hätte ich mir lieber die Ohren mit Flüssigbeton ausgegossen, als hiervon auch nur einen Ton zu hören.

Ab jetzt kann ich es jedoch "kurz" im Sinne von "nicht-ganz-so-lang" machen: ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich geirrt. Ich könnte den Social Distortion-Altenheim-Schunkler "I Was Wrong" auflegen und mich dazu nackich ans Kreuz nageln lassen. Ich habe es nicht für möglich gehalten und bekam dafür eine halbstündige Tracht Prügel. "Chinese Democracy" ist die Wutz in Dosen. Dem Warrior Soul Klassiker-Oevre wurden mit links sieben Songs plus eine Coverversion des Stooges-Hits "Knocking 'Em Down (In The City)" hinzugefügt, und ich kann beruhigt durchatmen, denn es bleibt dabei: Warrior Soul haben in ihrer Karriere noch niemals einen schlechten Song aufgenommen, egal mit welchem Line-Up. Die größte und gleichermaßen schönste Überraschung neben den energiegeladenen, arschfrischen und sautighten Punk'n'Rollern und der Tatsache, dass Clarke tatsächlich noch eine erkennbare Stimme besitzt und sie sogar wie in goldenen Zeiten einsetzen kann ("Don't Believe") ist sicherlich das deutliche Lebenszeichen der alten Warrior Soul-Vibes. Es fällt schwer, sie umgehend mit einem Fingerzeig zu dechiffrieren, aber sie sind spürbar, das Feeling ist wahrnehmbar; sei es in der Auferstehung des typisch-hypnotischen, Soul'schen Gitarrenriffs ("The Fourth Reich", "Don't Believe") oder in Clarkes weiterhin zynischen und humorvollen Texten und seinen klassischen Vocallines. 

Es freut mich wirklich sehr...ach was, ich springe hier im Dreieck, verdammt!,...dass Clarke es geschafft hat, dem eigentlich insolventen Laden nochmal derart beeindruckend Leben ein zu hauchen. Er wusste offensichtlich, dass die Fußstapfen verflucht groß sind, und dass einige Anstrengungen vonnöten sein werden, um den einst großen Namen nicht vollends zu ruinieren. Es ist ihm geglückt. Mehr als das, sogar: "Chinese Democracy" ist die beste Rockplatte des Jahres 2008. 

24.02.2009

Platz 6


Kris Davis - Rye Eclipse

Sie winden sich, und sie schlagen sich, sie lachen, und sie küssen sich, sie vergraben sich, und sie brechen wieder aus. 

Sie kämpfen. Um jeden Ton. 

Ein schier endloses Auf und Ab. Die harten, perkussiven Hammerschläge auf das Klavier wirken wie vom Irrsinn getrieben. Repetitiv schlängelt sich Davis' Piano durch ein manchmal gar undurchdringbares Geäst, einem Wirrwarr von Sounds, die ihre Musiker Tony Malaby am Saxofon, Bassist Eivind Opsvik und Drummer Jeff Davis wie entfesselt aus ihren Instrumenten locken. Es brodelt, es ist unheimlich, es schleicht und springt wie der Tasmanische Teufel. Dann kommen sie zur Ruhe, ohne dabei ihre Rastlosigkeit ab zu legen. 

Die unkonventionellen Kompositionen der jungen kanadischen Pianistin Kris Davis wirken wie künftige Monumente. In den gewalt(tät)igen Augenblicken wie vom Erdboden aufgerissener Asphalt, wie Beton und Stahl, der sich aus dem Untergrund streng blitzend in die Höhe schraubt, und wie ein angeschossenes Raubtier, wenn die Stille kommt. Malabys Anblasen fliegt wie ein verirrter Schleier in die Nacht. Sein Solospiel ist expressiv und aufwühlend, seine melodischen Improvisationen wie in "Prairie Eyes" anmutig. Davis' Pianofiguren dominieren weite Teile von "Rye Eclipse", ordnen sich aber nach der werweißwievielten Drehung unter Hypnose in den Klangdunst ein. 
 
"Sie kämpfen. Um jeden Ton." Und sie tun es tatsächlich. Keine martialische Schlacht im Sinne einer Anstrengung, die vonnöten wäre, um den korrekten Ton zu finden. Viel mehr ist es das Streben, im allumfassenden Kontext von "Rye Eclipse" zu bleiben. Das Gespür, den Fokus nicht nur auf das eigene Instrument, die Mitmusiker und den exakten, gegenwärtigen Moment zu lenken, sondern instinktiv zu spüren, was diese Musik wirklich benötigt. Im Klang. Im Ursprung. In der Wirkung. Dieses große, letzte Verständnis wird von diesen vier Musikern geradewegs atemberaubend gelebt: sophisticated, urban und himmlisch frei. 

31.01.2009

Platz 7




RYOJU IKEDA - TEST PATTERN



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30.01.2009

Platz 8




Matana Roberts - The Chicago Project

Charme. Charisma. Tiefe. Soul. Matana Roberts' drittes Soloalbum ist ihrer Heimatstadt gewidmet, der "root inspiration for this record".

Es ist eine einzige geerdete, melancholische Stimme, die sich aus vielen Stimmen zusammen setzt: Roberts am Altsaxofon, Jeff Parker an der Gitarre, Josh Abrams am Bass und Drummer Frank Rosaly. In den wunderbaren Saxofon-Improvisationen "Birdhouse 1", "Birdhouse 2" und "Birdhouse 3" kommt als Counterpart Fred Anderson am Tenor hinzu. Egal, wer gerade am Geschehen teilnimmt: es ist Roberts' integrierendes Talent, das die Stimmen bündelt. Ihr Ton ist warm und klar, ihre Kompositionen erinnern bisweilen gar an die spirituelle Königsklasse eines John Coltrane ("South By West"). Die variantenreichen Stücke sind dabei in ihrer Wirkung ein nahezu perfekter Brückenschlag aus Tradition und Moderne, aus den wärmenden Umarmungen der großen, alten Meister und der Distanz, des Designs der windigen Großstadt. Die Band wird dafür zum großen Farbkasten des Jazz geführt und erhält genau die Inspirationen, die sie für das Jetzt brauchen. Der Grundton schimmert allgegenwärtig durch die vielen Pinselstriche, es ist der Blues und der Soul. Ein abstrakter Free Jazz setzt sich auch immer wieder durch, gewinnt aber nie die Oberhand. Vor allem, wenn Parkers Gitarrenspiel einsetzt, balancieren die Stücke immer am Rand des Abdriftens in freie Gefilde, bevor sie vom eingewurzelten Ton der Bandleaderin wieder eingefangen werden.

Hervor zu heben ist auch unbedingt die sensationelle Produktion (aufgenommen von John McEntire in - na klar - Chicago, gemixt von Scotty Hard und Vijay Iyer in Roberts' Arbeitsstätte in New York) des Albums. Sie unterstützt die Musiker bei ihrer Stimmfindung, obgleich sie alles andere als 'perfekt' oder gar 'modern' ist. Insgesamt erscheint das Klangbild gar zart dumpf, ist aber in der Lage, jedes einzelne Instrument glasklar auf die Leinwand zu bringen.

"The Chicago Project" ist dank seines unaufgeregten und gleichzeitig mitreißenden Charmes eines der unwiderstehlichsten und verführerischsten Jazzalben des abgelaufenen Jahres.