THE CURE - SONGS OF A LOST WORLD
"Keiner kommt hier lebend raus." (Black Spider Clan)
Rückblende in den Oktober 1995. Herr Dreikommaviernull sitzt in einem Flugzeug nach London. Klassenfahrt. Neben mir im Flieger sitzt Tessa. Wir kennen uns nicht besonders gut, aber sie trägt immer schwarze Doc Martens Stiefel, dazu einen übergroßen Parka, und in ihre lange braunen Haare sind kleine Schmucksteine eingefädelt. Tessa wirkt damit zwar sehr cool und alternativ, ist aber stets sehr ruhig und zurückhaltend, introvertiert. Sie spricht leise. Und sie ist unantastbar der größte Fan von The Cure des ganzen Schuljahrgangs. Wäre "besessen" nicht so negativ konnotiert, ich tät's hier hinschreiben.
Ich bin nervös. Zu einen sitze ich zum ersten Mal in einem Flugzeug, zum anderen, naja, sitzt Tessa neben mir, und ich weiß immer noch nicht so recht, ob ich mit 18 jetzt schon in der Pubertät war oder ob das alles noch kommen wird. Unsicher, unbeholfen, unerlöst - Ich habe das volle Paket an Bord. Wir sprechen über Musik und Tessa fragt mich, ob ich denn auch auf The Cure stehe. Tu' ich nicht. Ich kenne zu diesem Zeitpunkt allerdings bewusst nur zwei Songs, und zwar jene, die auf MTV rauf und runter liefen: "Lullaby" und "Friday I'm In Love". In meiner Jugend erscheint das alles zu aufgesetzt und zu theatralisch, die Haare, die Schminke, der ganze Duktus erreicht mich nicht. Es ist vor allem die Stimme des Sängers, die mich provoziert. Ich habe über die Jahre eine wirklich unglaublich schlechte Robert Smith-Parodie entwickelt und welcher Hafer mich auch immer im Landeanflug auf Heathrow gestochen haben mag, sage ich zunächst unangenehm laut "NEIN! OH GOTT, DIE SIND SO SCHLIMM!" und gebe anschließend Töne von mir, die für mich perfekt nach Robert Smith, für Tessa wohl eher wie Isegrim auf LSD klingen, sofern ich ihren Gesichtsausdruck richtig einordne. Wir erkennen erstens: ich war schon damals granatenbescheuert, und zweitens: die Tatsache, dass mir die Szenerie noch so lebhaft in Erinnerung ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es mich seit 30 Jahren als Mahnmal begleitet und mich stets daran erinnert, doch bitte nicht mehr so arg doof zu sein.
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Rückblende in den September 2013. Herr Dreikommaviernull ist von Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden nach Last Exit Sossenheim gezogen. Es ist ein früher Sonntagmorgen, vielleicht 1 Uhr in der Nacht. Ich zappe durchs bundesdeutsche Qualitätsfernsehen und bleibe auf 3Sat hängen. Da steht Robert Smith auf der Bühne. The Cure geben ein Konzert. Mir entfährt ein "Fuck, The Cure!" und werde augenblicklich übellaunig. Vielleicht ist meine Antipathie seit den neunziger Jahren etwas erkaltet, aber die Pflege meiner Feindbilder nehme ich nach wie vor ziemlich ernst. Ich finde heraus, dass es sich hier um einen Auftritt in Berlin handelt, an dem die Band drei ihrer Alben hintereinander gespielt hat. Also, komplett. An einem Abend. Veröffentlicht unter dem überraschenden Titel "Trilogy".
"Wer schaut sich denn bitte stundenlang dieses Zeug an? Drei ganze Platten? Alter! Da schnarchst Du doch weg!"
Es ist mittlerweile drei Uhr, und ich bin nicht weggeschnarcht. Im Gegenteil, ich bin hellwach und schaue seit zwei Stunden gebannt dieser Band zu. Smith ist gerade zum letzten Mal von der Bühne gegangen. Ich surfe umgehend zu Discogs und kaufe mir völlig entgrenzt "Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me", "The Head On The Door" und "Pornography" auf Vinyl. Ich habe in dieser Nacht das Licht gesehen. Seitdem bin ich Fan. Vielleicht nicht so besessen wie Tessa, aber der Weg ist ja auch das Ziel.
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Rückblende in den November 2024. The Cure haben vor einigen Monaten ihr erstes Studioalbum seit 16 Jahren angekündigt. Herr Dreikommaviernull ist alleine ob der Aussicht unterwältigt. Mir geht diese ganze Nostalgie-Kaffeeklatsch böse gegen den Strich. Diese ganzen alten Dinosaurier, die sie alle mittlerweile zu nichts als einer Marke, einem "Brand" verkommen sind und sich durch die - freilich ausverkauften - Arenen schleppen, um nochmal so richtig den Rahm abschöpfen zu können. Und sie alle klingen lahmarschig, alt, staubrocken, gelangweilt, satt. "Alles nur Show, alles Fassade" (Blank When Zero), und jetzt reihen sich also auch noch The Cure da ein?
Der Teaser "Alone", knapp fünf Wochen vor dem Albumrelease veröffentlicht, ließ mich zunächst indifferent zurück. Das konnte ich jedoch noch auf meine traditionell ausgeprägten Unzulänglichkeiten schieben, mit einzelnen Songs außerhalb eines Albumkontexts irgendeine Verbindung aufzubauen. Aber dann kam der 1.November. Ein kalter, ungemütlicher, grauer Tag im Frankfurter Westen. Die Lohnarbeit ist heute besonders unerträglich und selbst die Aussicht auf das freitägliche Pizza-Ritual am Abend kann meine Stimmung nicht bessern. Ich könnte jetzt etwas fürs gute Gefühl brauchen, for the German Gemütlichkeit, und sei's nur die auf dem Plattenteller. Auf Instagram tauchen die ersten Beiträge mit Bildern des Vinyl von "Songs Of A Lost World" auf, und die ganze Welt scheint vor Begeisterung zu platzen. Das will in dem Rahmen nichts heißen, zum einen gehören die meisten Schallplattenfreaks genau zu jener oben beschriebenen Gruppe, der Musik mittlerweile kilometerweit am Arsch vorbei geht, solange man sich in dem süßen Kleister der Wehmut suhlen kann, zum anderen gehören Fans von The Cure zu den loyalsten Fans der Welt - die fallen auch auf die Knie, wenn Robert Smith den Beipackzettel eines Durchfallmedikaments auf Hindi vorliest. Und dennoch: ich werde jetzt auch ein bisschen wuschig. Ein bisschen sehr wuschig.
So wuschig, dass ich mich in meiner Mittagspause (zur Einordnung: ich stehe seit über 25 Jahren im Arbeitsleben und habe seitdem maximal 13 Mittagspausen gemacht!) ins Auto setze und zu einem verfickten Mediamarkt (!) fahre, um "Songs Of A Lost World" zu kaufen. Party like it's 1995, Party People! In jenen Zeiten bin ich nämlich auch am Veröffentlichungstag in den Frankfurter Musikladen gefahren, um direkt nachdem Inhaber Thomas Glück die Türen aufschloss, die so heißersehnte und just erschienene Platte mit nach Hause zu nehmen. Manchmal bin ich sogar von der S-Bahn Station Konstablerwache zu der ehemaligen Nummer 1 aller Frankfurter Plattenläden in der Stiftstraße GERANNT, weil ich es kaum mehr erwarten konnte, endlich mein zweites Wohnzimmer zu betreten. Heute renne ich nicht mehr, das Alter, Sie wissen schon. Dreißig Jahre später ist das Gefühl allerdings erschütternd ähnlich.
Als sich am Abend dann die Nadel zum ersten Mal auf die Schallplatte absenkt, hat sich die Indifferenz schon nach wenigen Sekunden in Luft aufgelöst. Ich bin entwaffnet. Wehrlos. Und alles, was ich in den nächsten Tagen und Wochen tun möchte, ist diese Platte zu hören. Zu versinken. In all dem Weltschmerz, all der Melancholie. Die Band hat sich mit dem Release viel Zeit gelassen, und sie lässt sich auch auf "Songs Of A Lost World" viel Zeit, ihre Musik atmen zu lassen. "Alone", "And Nothing Is Forever", "Warsong" und "Endsong" bauen sich Minute für Minute auf, bevor Smith schließlich mit seinem Gesang einsetzt. Das geht praktisch gegen alles, was heute en vogue ist und was sich die von der Überverfügbarkeit von Musik und von der ADHS-Überreizung geschlagenen Menschen heute so unter Musik vorstellen: Intros werden ersatzlos gestrichen, am besten geht's sofort mit dem Chorus los, die Strophen werden unauffällig in das Dauerfeuer aus hyperaktivem Melodiegeflacker gequetscht. Denn wenn's nach sieben Sekunden, irgendein moralisch verwahrloster Marketingmanager wird's wohl mit einer Excelkalkulation herausgefunden haben, nicht gefunkt hat, dann wird zum nächsten musikalischen Nichts geskippt, das einem hoffentlich druckvoller ins Gesicht kotzt.
The Cure müssen sich um sowas keine Gedanken mehr machen, denn die Zielgruppe will's natürlich genau so: alles ist Vibe, alles ist Tiefe, alles ist Vergegenwärtigung. Und so wurde "Songs Of A Lost World" so innig umarmt, wie ich es in den letzten 20 Jahren nur ganz selten erlebt habe. Nimmt man die Statistiken auf Discogs zum Maßstab, hat sich die Schicksalsgemeinschaft der verlorenen Welt innerhalb kürzester Zeit um diese Platte versammelt. Mittlerweile haben dort über 40000 Menschen angegeben, das Album entweder als LP, CD oder Tape gekauft zu haben - und das in nur drei Monaten nach Veröffentlichung. Man verzeiht mir bitte den Pathos, aber die Welt hat ganz offensichtlich auf "Songs Of A Lost World" gewartet. Es hat zum genau richtigen Zeitpunkt die Schmerz-und Reflektionspunkte von gleich mehreren Generationen getroffen.
Das ist auch deshalb außergewöhnlich, weil musikalisch hier so gar nichts nach Nostalgie klingen mag. Es gibt keinen Blick zurück, ich fühle keine Verklärung, ich höre kein wiederaufgekochtes Süppchen aus den Achtzigern. "Songs Of A Lost World" klingt zu jeder Sekunde nach The Cure und absolut zeitgemäß. Textlich ist es bemerkenswert, weil Smith sich in fast jedem Song mit dem Älterwerden befasst, mit dem Zerfall, dem Loslassen, der Einsamkeit, der Isolation, den immer und immer wieder so quälenden Fragen über das Leben und ganz besonders den Tod. Die immer erdrückendere Gewissheit über die Endlichkeit der eigenen Existenz, aus der so viele Fragen und so wenige Antworten im Raum stehen. Mir geht das sehr nahe. Und ich habe noch nicht entschieden, ob es eine gesunde oder ungesunde Nähe ist.
It's all gone, it's all gone
Nothing left of all I loved
It all feels wrong
It's all gone, it's all gone, it's all gone
No hopes, no dreams, no world
No, I, I don't belong
No, I don't belong here
Am Ende des zehnminütigen und hochdramatischen "Endsong" wirft uns Smith ein drei Mal nachhallendes "Nothing" vor die Füße.
Es ist nur ein Wort.
Es ist viel mehr als nur ein Wort.
Erschienen auf Fiction Records, 2024.
2 Kommentare:
Hammer Review, das den Nagel ziemlich auf den Kopf trifft, gerade auch der Part mit der richtigen Platte zur richtigen Zeit. - Mir ging es früher übrigens exakt genauso mit The Cure (und "meine" Tessa hieß Vera *g*) und zum Fan bin ich nie wirklich geworden (bis auf "Disintegration", die Nahemah mir nahegebraccht hat), aber dass das ne gute Band ist, merkt echt jeder Doofe. Also eigentlich. *g*
Danke für die Blumen! Das ist auch so eine Band, die ich gerne von Anfang an begleitet hätte. Ich glaube, sowas wie "Seventeen Seconds" oder "Faith" oder "Pornography" in der Atmosphäre der frühen 1980er und als Jugendlicher zu erleben, hätte mein weiteres Leben sehr stark geprägt. Ich kam da viel zu spät rein und war musikalisch und mental ganz anders ausgerichtet. In unserer aktuellen Realität trifft die neue Platte wohl ziemlich genau dieses vermeintliche Gefühl von damals, nur eben 40 Jahre später. Es ist wild, darüber nochmal diese besondere Stimmung zu spüren, finde ich.
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