03.10.2013

Urban Haschisch


BRAZZAVILLE - EAST L.A. BREEZE

Ich weigere mich ja noch standhaft, die Heizung anzuknipsen, wenngleich es hier und da schon etwas arg frisch in der just neu bezogenen Höhle werden kann. Ehrlich gesagt wäre ich unter normaleren Umständen schon vor zwei Wochen zum ersten Mal im Keller vor dem Heizboiler aufgetaucht, aber die drei Millionen Kubik an Pressspanplatten aus der Vormieterwohnung versperren den Weg dahin. Das habe ich superclever gemacht, ich weiß. Aber hey, es war Ende Juli, als ich den Kellerraum zurammelte, wer denkt da schon an den Herbst?! Wer dem Sommer jedenfalls noch die ein oder andere Träne nachweinen möchte, sich mit aller Gewalt auch noch im Oktober in Badeshorts und -latschen schießen und sich einen eiskalten Cuba Libre in die Unnerbüx gießen will, dem kann geholfen werden, wenigstens hinsichtlich des Rubrums "vom Feeling her hab ich ein gutes Gefühl": Brazzavilles "East L.A. Breeze" aus dem Jahr 2006 macht selbst aus meinem Keller eine stickige, schummrige Strandbar. Hochsommer, drei Uhr in der Nacht, Strohhut, weißer Rum. Und draußen schwappt das halbe Klärwerk durchs Mittelmeer.

Dabei machte "East L.A. Breeze" eine erstaunliche Metamorphose durch. Das sechste Studioalbum der Band mit dem im selbstauferlegten spanischen Exil lebenden Sänger, Gitarristen und Songwriter David Brown sorgte zunächst alleine ob des schwer in den Vordergrund gerollten Gesangs für mittelschwere Skepsis, die Herzallerliebste rümpfte aufgrund der Intonation und des bassigen, extra_extra_extralässigen Timbres Browns gar ausgiebig die Nase. Der Gewöhnungseffekt arbeitet jedoch gemeinsam mit der Aura dieses Albums erfolgreich daran, die Stimme nicht nur als Teil des Ganzen, sondern als fundamentalen Bestandteil dessen zu sehen, was diese Musik in erster Linie ausstrahlt. Wer sich darauf einlässt bekommt einen tiefenentspannten, zu gleichen Teilen emotionalen und gar hedonistischen Seelenschmeichler geschenkt, der introvertiert und reflektiert von der Liebe und von der Welt erzählt. Brown, der seit Ende 2003 seine Zelte in Barcelona aufgeschlagen hat, begeistert dabei mit seiner beeindruckenden Lebenserfahrung und -weisheit, die aus nahezu jedem Ton rinnt. Sein Leben als Ausreißer auf den Straßen von Hollywood, seine musikalischen Erfahrungen (u.a. als Saxofonist in der Tourband von Beck), sein völker- und kulturverbindendes Leben und Schaffen lassen sich in seinen Kompositionen, seinem Gesang und seinem Auftreten wieder entdecken.

Heute ist "East L.A. Breeze" fester Bestandteil der Sammlung, hat bislang jede große Verkaufsrunde überstanden, und ist mittlerweile sogar bei meiner Mitbewohnerin zumindest respektiert. Ich erinnere mich daran, wie wir im letzten, schon viel zu lange zurückliegenden Urlaub, diesen hyperleicht vor sich hin groovenden Track zum Aufwachen hörten, während draußen sich das Meer an die Küste kräuselte. Wunderbare Tage in Clichy.





Brown, der Brazzaville im Mai 2009 auflöste, bevor er sie im Juni (!) des gleichen Jahres wiederbelebte, feiert mit seiner Musik seit Jahren größere Erfolge in Russland und in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, nachdem der Radio-DJ und Kritiker Artemy Troitsky die Band für sich entdeckte und immer öfter in seiner Radioshow spielte. Auch in der Türkei sind Brown und Brazzaville längst keine Unbekannten mehr. Brown ist Lebemann, Kreativexplosion, Macher, Romantiker, Utopist in einem. In wenigen Wochen erscheint das via Kickstarter vorfinanzierte Konzeptalbum "Morro Bay", im Sommer 2014 wird die Band auf der Wolga und auf dem vielleicht eigens umgebauten und eigenen Schiff für Waisenkinder und Senioren spielen, und im Bandmanifest heißt es:

Brazzaville is dedicated to the naïve idea that the world is a beautiful place filled with wonder. We believe that there is another reality, just below the surface of our waking world, in which all is well. This is the true reality for us. We are committed to becoming less afraid of the world around us by helping others whenever possible. We love playing music and we dream of having a ship that runs on waste oil so that we may travel the seven seas making new friends and eating salted cod and mangosteen.





Man kann das alles nun wirklich schlechter machen.

Erschienen auf Vendlus Records, 2006.

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