13.11.2012

Durch die Nacht



CHARLIE HADEN - NOCTURNE

Ich mach' dann mal das Licht aus.

Oder wenigstens schalte ich das Rotlicht ein, das mein altehrwürdiges (und nebenbei durchaus renovierungsbedürftiges) Wohnzimmer in einen verwinkelten Tanzschuppen verwandelt, in dem die Pärchen leisen Schrittes über eine ausgetretene Tanzfläche schlurfen, in sich versunken, in Liebe und kubanischem Rum.

Mir ist aufgefallen, dass ich "Nocturne" schon lange nicht mehr aufgelegt habe, dabei ist es eine zweifellos wichtige Platte für mich. Vor etwa sieben Jahren begann ich mich für den Jazz zu begeistern, und der Katalog des Resteverwerters von Zweitausendeins war über beinahe zwei Jahre eine monatliche Pflichtlektüre. Es gab keine andere Möglichkeit, so leicht an geradewegs unverschämt günstige Jazz CDs zu kommen - die großen Klassiker von Blue Note, Prestige und Impulse, durch die ich mich durchwühlen wollte wie durch eine Badewanne voll mit der Nummer 19 (Indisches Curry mit Gemüse und Reis) für schlappe fünf Euro pro Stück; das blanke Entsetzen für meine sowieso schon überfüllten CD-Regale, das Paradies für einen unbedarften Typen, der noch 1998 und offenkundig in totaler geistiger Windstille ein Stratovarius Album kaufte. Zweitausendeins bietet allerdings nicht nur der Billigheimerfraktion ein neues Mailorderzuhause, sie stellen auch in jedem Katalog eine Handvoll neuer Veröffentlichungen vor - in der Regel sind's irgendwelche Major-Jazzer, die auch mal eine wohlwollende Kritik in der HörZu oder der Süddeutschen bekommen (und ich wüsste jetzt adhoc nicht, was schlimmer ist), vom Untergrund muss man denen also nix erzählen. Ich denke, es war in diesem Rahmen, in dem ein gewisser Roger Willemsen über "Nocturne" schrieb, und der Mann schrieb gut:
"Havanna war einmal die Stadt auf dem Kreuzungspunkt aller Wege des künstlerischen Austausches zwischen den Amerikas. Der Bolero etwa, diese kubanische Lied-Variante, trat von hier aus seinen Siegeszug erst quer durch Lateinamerika, dann bis nach Europa an. Charlie Haden reanimiert ihn kompositorisch und er prägt diese Produktion mit seinem voluminösen Sound, der dunkel pochenden slow hand am Bass, der dialogischen Versunkenheit im Zwiegespräch mit Gonzala Rubalcaba am Klavier, Joe Lovano am Tenorsaxophon oder Pat Metheny an der Akustischen Gitarre."

Nun bin ich ein beinahe glühender Fan von Willemsen und wenn so einer von "Nachtmusik" schreibt, von musikalischer Poesie und Haden in diesem Zusammenhang einen "begnadeten Stimmungsmaler" nennt, dann drücke ich immer noch schneller den "Kauf' ich!"-Knopf als Frau Katrin Göring-Eckardt das Wort "Neokonservatismus" buchstabieren kann. Und ich sollte es bis zum heutigen Tag nicht bereut haben: der US-amerikanische Bassist Haden hat als Stamm dieses Projekts mit Gonzalo Rubalcaba am Piano und Ignacio Berroa am Schlagzeug zwei Musiker um sich versammelt, die die vier kubanischen und drei mexikanischen Boleros (zusätzlich stehen noch drei Eigenkompositionen auf "Nocturne") mit viel Spin und Verve interpretieren und sich mit Haden überaus harmonische, raffinierte Duelle liefern. Die Kompositionen tanzen wie von selbst, sie huschen und wackeln wie schwerelos durch die nächtlichen Metropolen. Am Tenorsaxofon spielt sich Joe Lovano lässig seufzend immer tiefer in einen Wirbel, der die ambivalente Atmosphäre der Nacht mit jedem Ton greifbarer macht. Es ist, als würden die Musiker tatsächlich tanzen, sich annähern und in den besonders kammermusikalischen Momenten von "Nocturne", in denen sie so intim schwingen, als passe kein Floh mehr in den Aufnahmeraum, miteinander verschmelzen, um im nächsten Augenblick sich gegenseitig die kalte Schulter zu zeigen, sich zu entfernen, wehmütig und trauernd.

Es ist wie ein Theater, ein großes, dunkles, mystisches und auch erotisches Stück voller Leben, voller Melancholie und voller Liebe. Es war überfällig, mich mal wieder daran zu erinnern.

Erschienen auf Universal Music, 2001.

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