Zugegeben, es gibt coolere Bands und Alben, die man in dieser Aufstellung erwähnen könnte - aber es gibt kaum bessere. Ganz in echt: würde man mir die Knarre auf die Brust setzen und mich fragen, was denn meiner Ansicht nach DAS herausragende Album dieser Dekade gewesen sei, verbunden mit der Warnung, ich solle bloß nicht auf die Idee kommen zwei oder gar drei Scheiben zu nennen, sondern nur eine einzige, weil man andernfalls
den nervösen Zeigefinger am Abzug bewegen müsste, und zwar in eine Richtung, die mir ganz bestimmt nicht gefiele, dann bliebe mir selbst nach sorgfältigstem Abwägen keine andere Wahl, als leise "Marbles" zu stottern. Die britischen Prog-Rocker bündeln offensichtlich einmal pro Jahrzehnt alle verfügbaren Kreativkräfte und schreiben einen Meilenstein. In den achtziger Jahren war es das geniale Debut "Script For A Jester's Tear", die Neunziger bekamen das unglaubliche "Afraid Of Sunlight", während die Nuller also ein Geschenk namens "Marbles" erhielten. Dazwischen gab es mal Hochklassiges wie "Anoraknophobia" oder "Holidays In Eden" und auch mal den ein oder anderen Griff ins Katzenklo. Wie es eben so läuft. Zu ganz besonderen Anlässen jedoch reißt sich der Fünfer mächtig am Riemen und haut die perfekte Platte raus. Also so richtig perfekt, nicht nur halb-, dreiviertel oder fünfsechstel-perfekt.
Die Standardversion von "Marbles" enthält folgerichtig 11 perfekte Kompositionen, die Deluxeversion, die es exklusiv für jene Fans gab, die das Album bezahlten, bevor sie einen Ton davon hörten (und der Band damit die Produktion möglich machten) bringt es gar auf vier Songs mehr. Und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, zu jubeln. Beim Opener "Invisible Man", vielleicht? Einem 14-minutigen Monster, das viel näher an Pink Floyd als an - wie früher - Genesis erinnert und sich dabei anfühlt, als sei der Spuk bereits nach dreieinhalb Minuten vorbei? Das meine ich mit perfekt: die Band hat auf "Marbles" einen einzigartigen Fluss für ihr Songwriting gefunden, sie hält ihre Musik zu jeder Sekunde dramatisch, einfühlsam, bewegend, spannend und immer am Laufen. In Interviews erzählte Sänger Steve Hogarth von den Writingsessions und darüber, dass sie manchmal zwei Tage mit der Entscheidung verbrachten, ob der nächste Ton ein A oder doch lieber ein C sein sollte. Nun könnte man angesichts solcher Gruselgeschichten dem Vorurteil erliegen, dass damit ja jede Spontanität geradezu zwangsläufig auf der Strecke bleiben musste, aber es ist alles ganz anders: alleine "Invisible Man" schlägt am laufenden Band Haken und spurtet in eine Richtung, um innerhalb weniger Augenblicke wieder eine ganz andere Spur zu verfolgen.
Die Popsingle "You're Gone" ist schönster Melancholiekitsch mit leiser Housenote, "Angelina" ein sphärischer Dunkel-Schummel-Rotlicht-Schunkler, "Fantastic Place" eine sich stetig nach oben schraubende Sternstunde, die gegen Ende in einer hellen Supernova verglüht und eine der ergreifendsten Gesangsleistungen von Steve Hogarth aufbietet. Und apropos Hogarth: der Mann singt völlig (VÖLLIG!) fehlerfrei. Ich meine damit nicht ausschließlich den technischen Aspekt, sondern in erster Linie seine Melodielinien. Man darf diese Songs gar nicht anders singen, sie würden kaputtgehen. Sie würden auseinanderfallen, sie wären nur zur Hälfte da, der Rest wäre weggebröckelt. Hogarth trifft immer (IMMER!) die richtige Entscheidung, die richtige Stimmung, die richtige Klangfarbe. Wie soll ein Mensch den knapp zwölfminütigen Abschlussklumpen "Neverland", vielleicht das Größte und Ergreifendste, was es in diesem Jahrzehnt zu hören gab, besser singen? Es.ist.nicht.möglich.
Marillions möglicherweise größter Pluspunkt ist ihre Souveränität. Sie müssen niemandem mehr etwas an den Instrumenten beweisen, weswegen die Prog-üblichen Frickeleien komplett ausbleiben. Sie schreiben Songs, das ist alles. Und sie tun das mit der Erfahrung von fast 30 Jahren. Sie achten auf den Sound, sie achten auf das Wort, sie achten auf den Ton, sie achten auf die Stimmung. Und sie hegen und pflegen ihre Sprösslinge. Das mag auf den ersten Blick furchtbar spießig wirken, aber das Ergebnis gab ihnen Recht: "Marbles" war für fast ein komplettes Jahr mein täglicher Begleiter. Bis heute kein Funken Langweile in Sicht.
Erschienen auf Racket Records, 2004