03.03.2012

2011 #1 - BVDUB - Tribes At The Temple Of Silence / I Remember / The Truth Hurts (with Ian Hawgood)



Zunächst die große Einlassung: die Entscheidung, welcher Künstler meine Jahrescharts 2011 anführen wird, war im Grunde schon im Februar klar. Das mag sich zunächst nicht besonders fair anhören, bon, aber lasst es mich erklären.

Zu diesem Zeitpunkt stieß ich also auf das BVDUB Projekt des Kaliformiers Brock Van Wey, genauer gesagt auf sein Album "The Art Of Dying Alone", das bereits in den Herbstmonaten 2010 erschien. Zu diesem Zeitpunkt war für meine "Hall Of Fame 2010" allerdings nicht nur schon der Beton angerührt, die schlussendliche Architektur (= die Texte) war sogar schon verbaut (= geschrieben). Etwa zeitgleich schickte mir DER_ENGLÄNDER BVDUBs aktuellste Platte ins Haus. "Tribes At The Temple Of Silence" erschien Anfang 2011 und nach wenigen Minuten war mir klar, dass der qualitative Unterschied zum Vorgänger praktisch nicht vorhanden ist. In den nächsten Monaten, und ich übertreibe zwar grundlegend gerne (die Erziehung, ihr versteht...?!), an dieser Stelle aber unterlasse ich es; etwa bis in den Mai hinein hörte ich nahezu keine andere Musik als diese beiden Platten.

Brock van Weys Musik hat mit mir im Rückblick dasselbe angestellt, wie das, was die großen Meilensteine meines musikalischen Lebens vollbrachten: sie haben mein Leben verändert. Als ich 1986 zum ersten Mal das Iron Maiden Livevideo "Live After Death" sah, fünf Jahre später Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" hörte, nach einem Jahr des heftigen Kampfes 1998 endlich "Aenima" von Tool kapierte und sich mir ein komplett neues Universum auftat, im Sommer 2000 zum ersten Mal "Times Of Grace" der Noisecoreler Neurosis über Kopfhörer hörte, oder als 2005 Coltranes "A Love Supreme" schlussendlich alles sprengte, an das ich zuvor glaubte, sie justierten mich immer wieder neu. Immer zum genau richtigen Zeitpunkt, völlig ohne Zwang und Not traf es mich in diesen Situationen wie ein Eimer Eierlikör. BVDUB darf sich nun gleichfalls in dieser illustren Runde den Gewinnerkaffee zapfen.

Dabei ist sein Veröffentlichungsrythmus nun wirklich nicht dazu gemacht, immer auf dem hohen Niveau zu arbeiten, das seine Werke bislang auszeichnete. Van Wey ließ im vergangenen Jahr nicht weniger als fünf Alben von der Leine, hinzu kamen noch einige 12-Inches und für die ersten Monate des Jahres 2012 stehen auch schon wieder zwei komplette Alben auf der Matte. Das macht es auch meinem Kontostand nicht unbedingt leichter, denn ich kann nicht aufhören, seine Ideen hören zu wollen. Selbst wenn, und das ist der einzige Kratzer in dem BVDUB-Lack, den ich in Ansätzen dulden kann, die offensichtlichen Unterschiede in seinen Sounds nicht derart herausfordernd sind, dass wirklich jeder einzelne Ton an mein Ohr dringen müsste. Und dennoch: ich könnte es mir nicht leisten, eines seiner Alben zu verpassen.

Aus diesem Gedanken ist auch die Entscheidung erwachsen, sich hier und heute nicht nur auf ein Album, aber auf ganze drei zu konzentrieren. Drei Werke, die mich über das ganze Jahr begleiteten, die immer in meiner Nähe waren und die ich so oft hörte wie keine andere Musik in den letzten zwölf Monaten. Ich schrub es bereits in meiner unsäglich unreflektierten Lobhudelei zu "The Art Of Dying Alone", und es wird mit jedem Tag auch für die Nachfolger richtiger: "Ich selbst bin ehrlich gesagt auch noch nicht zum Kern dieser einhüllenden und umarmenden Musik gelangt, die Fixpunkte sind Repetition, Hall und Delay, Feedback-Drones und ohne Scheiß jetzt: ein helles Licht, dass direkt aus dem Lautsprecher in Dein Herz einschlägt." Und es schlägt jedes Mal aufs Neue ein, "das ist ja der Wahnsinn" (Loriot).

Der heftigste Rüttler schüttelte mich im Spätsommer mit "The Truth Hurts" durch, einer Kollaboration mit dem Multiinstrumentalisten Ian Hawgood. Ich saß leicht angetüddelt (dieser verdammte Cuba Libre!) im ICE in Richtung meines Wiesbadener Hauptquartiers. Traditionell sitze ich ab dem letzten Halt am Mainzer Hauptbahnhof für die restlichen 15 Minuten Fahrzeit alleine im Abteil. Es war schon spät und ich verbrachte die letzten eineinhalb Stunden in dieser seltsamen Zwischenwelt, die man nicht mehr bewusst wahrnimmt, sich aber nicht so recht traut, den letzten Schritt in Richtung des Tiefschlafs zu vollziehen. Auf den Ohren lag seit einer guten halben Stunde der Schleier von "The Truth Hurts" und als zu Beginn des dritten Tracks "Lie In Lone" überraschenderweise eine leise Gitarre schrapnellte, und außerdem eine verzerrte, verfremdete Stimme eine kleine Melodie sang, war ich so wach, wie man es in einer solchen Situation eben sein kann. "Lie In Lone" benötigt einige Minuten, um den Aufbau so zu strukturieren, dass sich plötzlich der Kern des Stücks offenbart - das Wort ist mit Bedacht gewählt, denn es macht tatsächlich den Eindruck, als werde die letzte Wahrheit des Klangs, meinetwegen auch eine göttliche Wahrheit, 's is' eh schon alles egal, enthüllt. Und dann schwappt sie da einfach mir nix dir nix über mich; für zwölf, dreizehn Minuten bade ich in den heilenden Farben des Klangs (Danke, Neal!) und mit jeder Welle, die mich trifft, werde ich demütiger und dankbarer. Mein Oberstübchen bekommt außer einem "Oh Gott...oh Gott..." eh nichts mehr auf die Reihe und warum fange ich jetzt eigentlich in diesem modernen Beförderungsmittel des sehr guten Unternehmens Deutsche Bahn plötzlich das Heulen an?


Es ist der Nebel und der Dunst, das Mystische und die Melancholie.

Die Sehnsucht, und das Licht.

Dieses unfassbar schöne Licht.

Es ist die Trauer und die Freude.

Und die Liebe.

Ja, am Ende ist's die Liebe.



Erschienen auf Home Normal, Glacial Movements und Nomadic Kids Republic, alle 2011.

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