09.04.2021

Sonst noch was, 2020?! (2) - Shabaka And The Ancestors - We Are Sent Here By History




SHABAKA AND THE ACENSTORS - WE ARE SENT HERE BY HISTORY

Neuer Jazz stand 2020 nicht hoch im Kurs im Hause Dreikommaviernull. Ich habe von neuen Veröffentlichungen tatsächlich nur sehr wenig mitbekommen - das liegt an meiner Ignoranz und nicht an dem Mangel neuer Musik, just sayin' - und die neuen LPs von Nubya Garcia oder Nubiyan Twist stehen immer noch auf dem Einkaufszettel, anstatt bereits (ausgiebig gehört) im Schrank. Der Fotograf und Betreiber der Jazzpages Frank Schindelbeck kommentierte letztes Jahr auf Twitter, für sein Bankkonto sei es überaus erfreulich, dass ich so selten über Jazz schreibe - und mich machte das wirklich etwas betroffen. Nicht weil ich mich über Gebühr um Franks Bankkonto sorge, sondern weil Jazz auf dreikommaviernull.de seit ein paar Jahren tatsächlich stark unterrepräsentiert ist, und das ist vor allem hinsichtlich der sich über das letzte Jahrzehnt entwickelten Renaissance der Jazzszene im Vereinigten Königreich beinahe ein kleiner Offenbarungseid - das gilt selbst unter Berücksichtigung des fehlenden Anspruchs dieses Blogs, über aktuelle Ereignisse oder Strömungen im Sinne eines Magazins zu informieren. Das war nie der gedachte Sinn von all dem geschriebenen Unsinn (sic!), aber ich hätte mich schon ein bisschen mehr anstrengen können, bon.

Es ist vor diesem Hintergrund gleichfalls verstörend, mit Shabaka Hutchings einen der bedeutendsten Protagonisten jener florierenden Szene lediglich zwei Mal auf diesem Blog namentlich erwähnt zu haben, anstatt auch über seine Werke zu schreiben. Das im Jahr 2016 erschienene "Wisdom Of Elders" (noch auf Brownswood Recordings erschienen) hätte bereits in die damalige Top 20 gehört und ähnliches könnte ich auch über das 2018er Durchbruchsalbum "Your Queen Is A Reptile" seines Projekts Sons Of Kemet schreiben. "We Are Sent Here By History" ist nun das zweite Album des Tenorsaxofonisten mit seinen Ancestors, ein herausforderndes, manchmal verwirrendes, manchmal erleuchtendes Monument des Jazz, das künftigen Generationen als Zeitkapsel dienen wird, um sich über den Zustand der Welt im Jahr 2020 zu informieren. Aufgenommen in Johannesburg, wo die Ancestors zu Hause sind, vibrierend vor Spannung, drückend. Köpfe in den Wolken, geerdet im Zerfall. 

Meine persönlich gezogenen Linien zwischen dieser Platte und der Zeit, in der sie entstand und wirkte, beziehen sich vor allem auf die globalen Black Lives Matter-Proteste aus dem Mai des vergangenen Jahres, die in den USA mit der Ermordung von George Floyd begannen und sich von dort aus zu einem globalen Phänomen ausweiteten. Der Schmerz, die Verzweiflung und der bebende Zorn derer, die jahrhundertelange Unterdrückung plötzlich so klar wie nie zuvor sehen konnten auf der einen, und die wohl noch nie so stark gespürte Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung auf der anderen Seite, vereinigten sich zu einer mitreißenden Bewegung, die für mich das Jahr mindestens so bestimmte wie die Covid-19-Pandemie - und unter diesem Eindruck des Aufruhrs, der Erweckung, aber auch der Verbrüderung hörte ich "We Are Sent Here By History" als weitere Stimme dieses Chors, als Aufschrei, als Weckruf. Die Worte von Autor und Dichter Siyabonga Mthembu begleiten die Band dabei auf ihrem Weg durch das Album, sie untermalen und untermauern das thematische Konzept eines neu gedachten Humanismus nicht nur, sie stehen ganz zentral für Veränderung: 

"We are sent here by history/The lighter gave fire, and was present at the burning/The burning of the republic/Burnt the names, burnt the records, burnt the archive, burnt the bills, burnt the mortgage, burnt the student loans, burnt the life insurance/An act of destruction became creation."


Hutchings selbst sagt:

"'We Are Sent Here by History’ is a meditation on the fact of our coming extinction as a species. It is a reflection from the ruins, from the burning; a questioning of the steps to be taken in preparation for our transition individually and societally if the end is to be seen as anything but a tragic defeat. For those lives lost and cultures dismantled by centuries of western expansionism, capitalist thought and white supremist structural hegemony the end days have long been heralded as present with this world experienced as an embodiment of a living purgatory."

Was die Musik dieses Sextetts (unter anderem mit dabei: Schlagzeuger Tumi Mogorosi, über dessen Debutalbum ich vor einigen Jahren schrieb) so drastisch und expressiv macht, ist die authentische Wucht des Vortrags einerseits, ein tosender, entfesselter Sturm aus einer Million Kehlen und Lungen, andererseits die tief verwurzelte Spiritualität der Gruppe, ihre Geschichte, ihre Verbindung zu ihrem Land und ihren Menschen. Aus diesen zwei vornehmlichen Strömungen in dieser Musik entsteht eine Wahrhaftigkeit, eine Überzeugung darüber, dass Veränderung unausweichlich ist. 

Man antizipiert den Schmerz, man hört geradewegs das Auseinanderreißen alter Strukturen, die Zerfaserung, das Splittern. Man schmeckt die Tränen. Alle gemeinsam für ein neues Morgen.


 


Erschienen auf Impulse Records, 2020.



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