26.12.2011

2011 #19 - Moholy-Nagy °° Like Mirage



Hauptbahnhof Stuttgart, 22 Uhr. Es ist ziemlich schattig in der Landeshauptstadt, nass noch dazu. Ich habe außer drei oder acht Tassen Kaffee über den ganzen Tag nichts gegessen, dazu kamen stundenlange Telefonate und der ein oder andere Gang aufs Klo war auch noch mit von der Partie. Kurz: ein Tag, um sich mit einer Nagelfeile das linke Bein abzutrennen. Vor mir liegt jetzt noch eine gut zweistündige Zugfahrt mit unserem allerliebsten Reiseunternehmen, das mir in der Nähe von Mannheim tatsächlich noch einen ihrer Kaffeeersatzimitate für vierachtzig oder wieviel anbieten sollte. Großer Gott. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich verbrenne beim Gedanken an ein heißes Bad.

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Es ist goldenes Licht, das durch die Schlitze des Fensterrollos gleitet und auf meine Augen tropft. Ich höre den Wind, es duftet nach blauem Meer, eine einsame Seemöwe kreischt beim Vorüberfliegen. Es ist warm und der Tag haucht mir eine Versprechung nach der anderen ins Ohr. Am Horizont ballt sich die heiße Kraft des Universums zu einem Bündel aus tanzendem Feuer zusammen, die sich langsam erwärmende Luft flirrt über dem dunklen Holzboden und malt sich windende Sinuskurven in ihre Zwischenwelt. Ich lehne mich an den Türrahmen und blinzle in Richtung des Ozeans. Das Schilf wiegt sich sanft in der salzigen Brise und es scheint, als spiegele sich jeder einzelne Sonnenstrahl auf der Wasseroberfläche.

Mein Verstand kapituliert vor dieser Perfektion. 


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"Sehr verehrte Fahrgäste, leider hat dieser Zug eine Verspätung von derzeit 25 Minuten. Wir informieren sie rechtzeitig über ihre Anschlusszüge. Vielen Dank für die Reise mit der deutschen Bahn."

Und draußen zieht Worms vorbei.

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Ich bemerke allmählich, dass ich Probleme habe, auf den Beinen zu bleiben. Es wabbelt auch etwas unter mir. Das ist so ein Moment, in dem man nach kurzer Zeit wahrnimmt, dass das eigene Hirn einen gerade verschaukelt. Ich hätte gestern Abend diese Tangerine Dream Platte nicht rauchen sollen, ich hab's befürchtet.

Dieser mächtige Pianoakkord trifft mich mit voller Wucht. Es fühlt sich an, als wäre mein Blut für 0,3 Nanosekunden, eine übersichtliche Zeitspanne, in ein kochendes Meer verwandelt worden; die Schwingung lässt den gesamten Körper bis in tiefste Auraschichten erzittern. Der Boden gibt nach und ich gleite auf dem Weg nach unten auf einer unsichtbaren Schicht aus Synthiewatte, schwarzen Pianotasten und einem Teppich aus an Gitarrensaiten aufgeknüpften Effektgeräten über das, was eben noch der Ozean war. Immer der Sonne entgegen. Der Raum wird dreidimensional, aber ich kann das Gras wachsen hören. Das Licht wird heller, es wird wärmer. Es wird friedlicher und plötzlich erkenne ich, warum wir hier sind. Wir sollten alle viel mehr...


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"ENDSTATION! AUFWACHEN! HEY! HEEEEY! RAUS JETZT! WIR WOLLEN JETZT ALLE INS BETT!"

Erschienen auf Temporary Residence, 2011.

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