24.11.2010

Johannes B. Kerner ist als Moderator überbezahlt

ASTRO CAN CARAVAN - THE NAGUAL JULIAN

Ein heißer Tipp für Freunde obskuren Funks, Jazz' und meinetwegen pikanter Salsa und Guacamole (mit rohen Zwiebeln): Astro Can Caravan stammen aus Finnland und haben mit dieser Maxi aus dem letzten Jahr den Vogel für heiße Sonnentage abgeschossen. Und wo das gesagt ist, fällt mir gerade auf, dass das ja eine total bescheuerte Redewendung ist. Jedenfalls: der Holzlöffel steht senkrecht in der kühlenden Buttermilch.

Die Band um das Trio Otto Eskelinen, Tomi Kosonen und Pharaoh Pirttikangas als harten Kern, sowie ein ganzer Arsch voll Leute aus dem erweiterten Freundeskreis, sechs weitere Finnen, um genau zu sein, grooven sich in Outer Space Big Band-Manier schön die Füße platt. Der Titeltrack lässt das Caipirinha-Eis in der Fußsohle schmilzen, die Drums zittern ohne Zwischenstopp in Richtung Südamerika, die Bläser verschieben den Zuckerhut mal schnell in Richtung Helsinki - warum auch nicht? - und wenn man genau hinhört nimmt man sogar trotz all des Gezappels und Gezuppels die nordische Distanziertheit wahr - was das ganze noch spannender macht, als es eh schon ist.

Die B-Seite lässt es etwas gemäßigter, dafür aber umso experimenteller angehen. In der Anlage erinnern sie mich ein wenig an die IMPS, die letztes Jahr ein gutes, wenngleich nicht gerade leichtes Jazz/Elektro-Album namens "Bring Out The Imps" auf Mule Records veröffentlichten, allerdings lassen Astro Can Caravan konsequent jede Elektronik außen vor und konzentrieren sich stattdessen auf die Stärken eines großen Kollektivs, das auf den Spuren Herbie Hancocks, Sun Ras und frühsiebziger Funk'n'Soul wandelt und bei "Cosmo Jones" sogar eine Wah-Wah-Gitarre auf die Reise zum Mars schickt.

Der Zeitpunkt dieser Vorstellung könnte kaum besser gewählt sein: Die Band hat gerade ihr viel zu lange schon köchelndes neues Album "Planet Caravan" auf Ricky Tick Records veröffentlicht. 

Bitte bestellen sie jetzt und zwar exakt: HIER


Erschienen auf Ricky Tick Records, 2009

21.11.2010

Abschiedsgeschenk




BILL EVANS TRIO - AT TOWN HALL

Es ist Zeit, ein paar Hosen fallen zu lassen. Erstens: das ist meine erste Bill Evans-Platte und zwotestens hatte ich bisher, aus welchem Grund auch immer, nie das dringende Bedürfnis, diesen Zustand zu ändern. Drüttens: Ich habe von Jazz eigentlich keinen sitzen, aber mir gefällt's halt. Das war vermutlich das offensichtlichste Bekenntniss des Dreierpacks.

Ich glaube fast, dass ich in den letzten Jahren immer dachte, Bill Evans' Musik sei mir nicht wild oder lebendig genug, und dass ich unbedingt diesen total crazy Freejazz-Shit brauche, mit all dem Krach und all dem Chaos. Mittlerweile schließt das eine das andere nicht mehr aus: Mir wurde kürzlich "At Town Hall" wärmstens ans Herz gelegt, eine toll aufgemachte Wiederveröffentlichung des ursprünglich 1966 erschienenen Albums auf schwerem Vinyl im aufklappbaren Cover und da konnte ich einfach nicht widerstehen. Um es kurz zu machen: das waren vielleicht die am besten investierten 20 Euro des Jahres.
Zusammen mit Bassist Chuck Israels und Schlagzeuger Arnold Wise schwebt, tänzelt und fließt er durch vier Kompositionen, darunter der Standard "Spring Is Here" und entfacht dabei ein Feuer der Kommunikation mit subtilen Zwischentönen und betörenden Betonungen, das speziell unter dem Kopfhörer eine Magie entwickelt, die mich geradewegs an der Anlage festkleben lässt.

Absolute Sternstunde des Albums ist die Soloperformance "Solo - In Memory Of His Father", seinem zwei Wochen vor dieser Aufnahme verstorbenen Vater gewidmet. Evans hatte die Wahl, angesichts der tragischen Situation dieses Konzert abzusagen, oder trotzdem zu spielen, und er entschied sich für letztere Option. Das Resultat ist ein 13-minütiges Opus, das er exakt in diesen zwei Wochen entwickelte; Kernstück ist die Sektion, die sich später zu dem Titel "Turn Out The Stars" entwickeln sollte. Kenner sind sich einig, dass Evans es später nie wieder schöner und wärmer spielte als auf dieser Aufnahme. Lässt man die umwebenden Improvisation beiseite, kämen die meisten Menschen wohl nicht auf die Idee, dass es sich hierbei tatsächlich um Jazz handelt, viel mehr kommt Evans' klassischer Einfluss wie der des französischen Komponisten Maurice Ravel zum Tragen.

Selbst das New Yorker Publikum vermittelt angesichts der Intensität dieses Stücks den Eindruck, als ob es über die ganze Spieldauer gespannt den Atem anhält. Es ist Mucksmäuschenstill unter den gut 3000 Zuhörern und erst nach dem atemberaubenden Epilog bricht die Bewunderung und vielleicht auch das Mitleid und die Trauer aus ihnen heraus.

"At Town Hall" wurde mir mit den Worten empfohlen, dass insbesondere dieser Titel tief beeindruckend sei und eine Gänsehaut erzeugen könne, wie ich sie selten erlebt haben dürfte. Der Mann hatte recht.

Das ist eine der schönsten Jazzplatten, die ich jemals hörte.

Erschienen auf Verve, 1966
Re-Issue auf Verve/Speakers Corner, 2010

13.11.2010

Das Finnen-Debakel


VLADISLAV DELAY - TUMMAA


Ich kann's nicht ändern, aber das ist und bleibt eine Enttäuschung. Letzten Endes beweist mir "Tummaa" mein zugegebenermaßen beschränktes, aber eben doch oftmals zutreffendes Vorurteil: der Nachfolger eines Meisterwerks ist in den seltensten Fällen ein ebensolches - nicht ganz so selten kann das Ergebnis gar umso niederschmetternder sein.

Wenn also vor allem die Indiehampelmänner und -frauen "Tummaa" als "große Kunst" (Intro - wer sonst?) mit "faszinierendem Klangkosmos" (irgendwer - 's auch schon egal) und "live eingespielt, frisch und organisch-unmittelbar" (Kristina "Vakuumrübe" Schröder) bezeichnet, dann kann das nur zur Abschreckung dienlich sein. Ich hatte nach Delays fantastischem Opus "Whistleblower" tatsächlich große Bedenken, ob "Tummaa" die Qualität hält und sie sollten sich bestätigen. Delay agiert hier weitaus bestimmter und konkreter als zuvor, was erstmal nicht Schlimmes sein muss - aber dafür bleibt er im Verlauf der Tracks zu sehr an der Oberfläche, er begnügt sich mit offensichtlichen Standards und Sounds, die mich angesichts der Platzierung und ihres reinen Klangs verwirren. Und das ist ausdrücklich keine positive Verwirrung, das ist verwirrende Verwirrung, weil ich ihm diese billig und durchsichtig klingenden Aldi-Sounds nicht im Geringsten zugetraut hätte.

Bei aller Stringenz, mit der Delay beispielsweise den Albumopener "Melankolia" mittels Klangfetzen und einer Pianofigur aufbaut, erscheint er insgesamt doch seltsam ziellos. Die dargestellten Brüche ergeben keinen Sinn, sie führen nicht zum großen Endgegner, zum großen Bilderrahmen, der wenigstens einen Geschmack oder einen Dunst im Zaun hält, sondern eher in ein heilloses Durcheinander und einem "Touch & Go"-Mischmasch, dem es gefällt, mit überhöhter Geschwindigkeit an Tiefe und Gefühl vorbei zu rasen. Was soll man von einem Stück wie "Mustelmia" halten, das mit dem verzweifelten Versuch spielt, so irrelevant wie möglich zu erscheinen? Einzig das zerrissene "Toive" und das gute Titelstück können hier und da wenigstens einen Stimmung und eine größere Idee vermitteln, der Rest taucht in unnötigem Nichts umher.

Wenn mir außerdem jemand sagen kann, wo "Tummaa" die in verschiedenen Rezensionen immer wieder geäußerten "Jazz-Einflüsse" präsentiert, wäre ich ausgesprochen dankbar. Merke: nicht jedes traurig-klimperndes Piano ist gleich ein Fall für einen angedachten Distinktionsgewinn.

Erschienen auf Leaf, 2009

08.11.2010

Denkt denn niemand an die Kinder (2)

Und ab in die zweite Runde meiner kleinen 7-Inch-Schau. Verrückt, wie die Zeit rennt. 



GLEN PORTER - SMILE NOW, CRY LATER

Eine kleine Single, die, wenn es nach mir ginge (und das geht es bekanntermaßen nie), viel mehr Staub hätte aufwirbeln dürfen. "Smile Now" beginnt als dubbige Hymne im Sonnenschein-Familienpack, einem blitzgescheiten Gitarrenlauf und einer perfekt austarierten Bassdrum, die einem nicht mehr viel übrig lässt, als sich mit seeligem Lächeln im Liegestuhl am Strand von Los Angeles zurück zu lehnen, bevor plötzlich das Tempo Richtung Südpol geht und die Melancholie die Tür aufrummst. Ist das hier auf einmal Miami Vice, 1986? Oder ist das eine in Musik gegossene Vision vom Scheitern als einzige Option? "Cry Later" auf der Flip dreht die Lautstärke und den Weirdo-Faktor nach oben und bietet eine Eddie Spaghetti-Gitarre über frühen Beck'schen Hip Hop-Beats. Auch hier auffällig: das Break in der Mitte das sich nur wenige Sekunden später wieder mit dem Thema verbindet, und aus der Aura des Tracks etwas völlig anderes entstehen lässt. Groß. Und für die Nerds - die Zugabe: limitiert auf 300 Stück, white wax, in schön handgemachten Silk-Jackets verpackt. Beeilung, heiß und fettig!

Erschienen auf Ooohh! That´s Heavy, 2010




MIDDLE CLASS RUT - BUSY BEIN' BORN

Und jetzt zu etwas völlig anderem, wenn auch aus den gleichen, wo nicht selben Breitengraden wie der gute Herr Porter. Ich wollte schon vor Ewigkeiten etwas über das kalifornische Duo Middle Class Rut schreiben, aber ihr wisst ja, wie's ist. Wie man's macht, ist es verkehrt und das Runde muss in die Grube, in die ein anderer reinstrullte - jedenfalls: Zack Lopez und Sean Stockham verzichten auf den Bassisten und spielen damit meiner frühen (und ich meine sehr frühen) Ansicht in die Arme, dass der Bass sowieso völlig unnötig ist. Auf der Bühne war das ungeheuer intensiv und beeindruckend, zumal sie den fehlenden Bumms untenrum mit Samples (beispielsweise mit einem durchdringenden, tiefen Ton) locker wettmachten. Ihre Musik ist ein wilder Mischmasch aus 70s-, Stoner- und Alternative Rock, Punk und vor allem aufgrund des Gesangs einer Prise Hardcore. Vor allem das Titelstück ist mittlerweile ein schwergroovender, kleiner Klassiker mit einem herzallerliebsten Wutausbruch zur Mitte, der im Hause "Flori" (Mutti) auf keinem Sampler fehlen darf. Die B-Seite bietet mit "All Walks Of Life" ein nach vorne preschendes Rock'n'Roll-Riff, auf dem zunächst - ich schwöre! - der kleine große Bruder von Noel Gallagher loslegt, bevor der Whiskey und die ganzen Scheißkippen ihre Wirkung entfalten und der Wahnsinnige von The Bronx alles totrotzt.

Happy, happy family!

Erschienen auf Bright Antenna, 2008




MUHSINAH - ALWAYS (SMILE)

Achtung, nix für schwache Nerven, dafür aber eventüll für Flying Lotus-Devotees. Muhsinah (Einflüsse: Chick Corea, Alice Coltrane und J Dilla - nur mal zur groben Einrichtung) ließ zwei ihrer Tracks von 00Genesis und von ebenjenem Flying Lotus überarbeiten, die mir beide mit sehr kruden Mixes den Schädel auf halb acht drehen. 00Genesis hat sich den Titeltrack vorgeknöpft und glitscht zwischen Avantgarde-Hip Hop und einem winzigen Geschmack, so ein ganz kurzer, auf der Zunge sich verflüchtigender, von 60s Soulmusik umher - und kaum ist der Track vorbei, ist er tatsächlich vorbei. Potzblitz! FlyLo - wie wir Checker ihnen schnippisch nennen - hingegen hat "Lose My Fuse" den typischen Nebelschleier übergewemmst und ein Hamsterrad an irgendwas angeschlossen, was da im Hintergrund die ganze Zeit tschagga-tschagaa macht. Muhsinahs Stimme schwebt zwischen diesem Science Fiction Entwurf von Popmusik mal kurz in Richtung butterweiche 70er-Stimme und Intimrasur, bevor sogar Radiokopf Thom Yorke auf den Geschmack gekommen ist. Das hat der Track zwar nicht verdient (wie so häufig), aber hey: Drahtpropeller machen ja auch schönes Licht!

Und jetzt nochmal ganz kurz in echt und ernst:
dieser ganze Schmuhkäse von "grenzenauflösend" und so - ist ja alles Kappes, wahrscheinlich direkt von den kranken Hirnen einer Intr....- quatsch! Indiepostille ausgedacht, aber scheißrein: hier stimmt's. Ich habe wirklich nicht den leisesten Dunst einer Ahnung, was das hier ist. Oder nicht ist. Oder, haha, vielleicht mal war. Der Kopf nickt, und das ist ja wohl (jawohl!) das Wichtigste, aber er weiß einfach nicht - wozu zum Fick?

Erschienen auf All City Dublin, 2010