24.02.2008
"Haste Schon Gehört?"
Auflistungen mit dem Titel "Beste Songs des Jahres" sind schon so immer einer Sache: meist lassen sich dort ja doch nur die vermeintlich besten Tracks aus den jeweils besten Alben des Jahres blicken, und das wirft schon ein wenig die Sinnfrage auf. Dennoch gab es zumindest in meiner Wahrnehmung dieses Jahr den ein oder anderen Tune, der auf diesem Blog bisher noch keine Erwähnung erfuhr, mir aber dennoch sehr oft durch den Gehörgang rauschte. So oft sogar, dass ich nicht umhinkomme, eine kleine Auswahl in meiner Bestenliste zu präsentieren.
Danach ist aber wirklich Schluss mit dem Listenkram, versprochen.
01 Apparat (feat. Raz Ohara) - Hold On (Chris De Luca Vs. Phon.O-Remix)
"Get Off"-Prince trifft "Sexy Back"-Timberlake. Muss man laut hören, am besten nachts um vier, mit klatschnassen Klamotten, auf der Tanzfläche. Hätte sowas wie der ultimative Sommerhit 07 werden können, und das nicht nur für meine geschätzten Leser.
02 Yoko Ono - Every Man Every Woman
Jeder meiner selbst zusammengestellten Sampler des Jahres 2007 begann mit diesem Song: Yoko Ono hat für ihre aktuelle Platte "Yes, I'm A Witch" ihre teils bis zu 25 Jahre alten Songs von aktuellen Künstlern remixen lassen. Das einzige Element, das bleiben durfte, ist ihr Gesang. "Every Man Every Woman" verwandelte sich unter der Bearbeitung von Blow Up zu einem hippen, taufrischen Dancefloorstomper, der den Innovationswillen der Künstlerin eindrucksvoll untermauert. Ein beeindruckendes Statement.
03 Battles - Atlas
Das Lied der Schlümpfe in einer atemberaubenden Neufassung. Battles schaffen es seltsamerweise nie, mich mit ihren Alben zu überzeugen, aber "Atlas" ist ein großartiger, verwirrter, selbstbewusster Ohrwurm Deluxe.
04 Brazzaville - 1983
Wenn man die Definition von "Tolle, aber völlig untergegangene Platte" benötigt, sollte man "East L.A. Breeze" der Exil-Spanier Brazzaville etwas näher betrachten. Traumhafter, souveräner Indiepop, dazu mit "1983" einen Song im Köcher, der an endlos lange, weiße Sandstrände und mächtige, schattenspendende Palmen erinnert. Perfekt.
05 Gudrun Gut - Rock Bottom Riser
Auch über "Rock Bottom Riser" wurde meinserseits schon so einiges gesagt. Für mich ist die flirrende, leicht angeschrägte Coverversion des Smog-Songs das Highlight auf Gudruns Debut-LP "I Put A Record On". Landete ebenso auf praktisch jeder meiner Song-Zusammenstellungen des Jahres.
06 Black Rebel Motorcycle Club - Weapon Of Choice
Das Album "Baby 81" schlitterte haarscharf an meiner Top 20 vorbei, nichtsdestotrotz lassen sich auf dem nunmehr vierten Album einige saucoole, schnoddrige Songperlen finden. "Weapon Of Choice" ist nur ein Beispiel dafür.
07 Redshape - Alone On Mars
Mir ist Redshape bishweilen etwas zu direkt und straight, aber "Alone On Mars" entwickelt sich über knapp neun Minuten zu einem trippigen und treibenden Vorzeigetrack, der sich zwischen futuristischen Sci-Fi-Sounds und einer mystischen Schwebeästhetik entlang schlängelt. Genau dieser Gegensatz macht "Alone On Mars" so besonders und wertvoll.
08 David Judson Clemmons & The Fullbliss - Our Houses
Auch hier würde ich so langsam Eulen nach Athen tragen, würde ich nochmals auf die Größe von Clemmons aktueller scheibe "Yes Sir" hinweisen. Also machen wir's es kurz:"Our Houses" ist Melancholie in Vollendung, gespielt von einem, der ganz genau weiß, was er tut.
09 Claude VonStroke - Who's Afraid Of Detroit (Deepchord Remix)
Ein zusammengebrutzelter, knietiefer Technotrack, der sich herrlich reduziert durch ein im Nebel liegendes, 150 Quadratkilometer großes Maisfeld (in Downtown Detroit, natürlich) kämpft. Irgendwie verschwommen, urban und dunkel. Für zwölf Minuten und eine Handvoll Pillen.
10 Gui Boratto - Beautiful Life
Ich wiederhole mich, aber alles egal jetzt: "Beautiful Life" ist vertontes Zitroneneis mit Sahne. Ein strahlender, positiver, lebensbejahender Song, eine der absoluten Sternstunden des Jahres.
Und jetzt, auf zu neuen Ufern!
21.02.2008
Platz 1
Vladislav Delay - Whistleblower
Noch nie zuvor fiel mir die Wahl zum Album des Jahres so schwer wie in 2007. Ich schreibe das nur schonmal vorab, um ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie rastlos ich in den letzten Tagen mit dieser Frage umging. Theoretisch hätte 2007 zwei erste Plätze verdient gehabt, aber praktisch ist das ja ein ziemliches Herumgeeiere, ein fauler Kompromiss. Also, Augen zu und durch.
Seit sage und schreibe März steht "Whistleblower" nun im CD-Wechsler, und die Frage, dieses bewundernswerte Album ins Regal zu stellen, stellte sich seitdem nicht ein einziges Mal. "I Saw A Polysexual" war vorab der Auslöser für meine Neugier auf diese Musik: seltsam gebrochene Beats, die eigentlich keine Beats waren, vielleicht ein Puls, aber eben doch eine Art Groove ergeben, wie ich ihn noch niemals zuvor hörte. Der endlos tiefdröhnende Bass, der seinen Platz wie ein König einnahm und die Vasallen in unterirdischen Minen dirigierte, drangsalierte, ja möglicherweise gar folterte. Und nach sieben Minuten verschmilzt dieser schemenhafte Geist aus Feuer, Glut und ätzendem Qualm in eine Figur aus Fleisch und Blut, plötzlich ist alles klar. Und wir wissen trotzdem nicht, wie der König das jetzt hingezaubert hat.
Man weiß sowieso so wenig.
Woher die teils gar nicht mal so unterschwellige Aggressivität in Delays Musik herkommt, beispielsweise. Der sich durch die überlangen Tracks (Delay benötigt für sieben Songs knappe 70 Minuten) ziehende Soundteppich, das Grundrauschen beruhigt die Musik eher, als dass er die Säbel rasseln lässt. Und dennoch kommen mir bisweilen Bilder in den Kopf, die nichts von Blümchensex bei Schwebemusik erzählen, sondern recht martialisch und kämpferisch erscheinen, die von harter Arbeit berichten. Ein sehr persönliches Erlebnis geschah im Frühjahr des letzten Jahres, als ich zu der Musik von "Whistleblower" in der warmen Badewanne hinwegdöste und in meinem Halbschlaf Bilder von kleinen Gestalten in einem menschlichen Körper entdeckte, die mit kleinen Spitzhacken und elektrischen Bohrern und anderen Gerätschaften Krebszellen abbauten und bekämpften. Hier manifestierte sich das weiter oben beschriebene Bild von Minenarbeitern in diesem Traum und auch wenn es sich für den ein oder anderen reichlich far-out anhören mag: das war eines der schönsten und wichtigsten Erlebnisse mit Musik der letzten 10 Jahre. Nicht nur aus diesem Grund ist Vladislav Delays "Whistleblower" für mich das strahlendste, großartigste Album des letzten Jahres, und eines der bemerkenswertesten Scheiben des bisherigen Jahrzehnts.
18.02.2008
Platz 2
The Sea And Cake - Everybody
Ich könnte The Sea And Cake gar nicht genug in den Himmel loben. Seitdem ich vor fünf Jahren zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Musik des Quartetts machte, sind sie mir mehr als nur ans Herz gewachsen. Meine Einstiegsplatte hieß "Oui" und hatte mit "All The Photos" einen Song an Bord, der künftig stellvertretend für meine Verehrung stand. Nach vier langen Jahren Pause kehrte die Band aus Chicago im Mai dieses Jahres mit einem neuen Album zurück ins Rampenlicht. "Everybody" entpuppte sich nach der üblichen, kurzen Eingewöhnungszeit nicht nur als ungewöhnlich rockige Platte, sie stellt auch nahezu alles in den Schatten, was die Musiker in ihrer an Höhepunken sicher nicht armen Karriere veröffentlichten. Ihr Anspruch, in dem zugegebenermaßen begrenzten stilistischen Rahmen um die Fixpunkte Jazz, Indie und Pop, immer wieder die besten Songs aufzunehmen, die sie zur Zeit in der Lage sind zu schreiben, findet hier seine Vollendung. "Everybody" ist atmosphärisch geradezu beängstigend stimmig und bekam tatsächlich die schönsten, wärmsten, straightesten und zeitgleich vielschichtigsten Songs geschenkt, die je auf einer Sea And Cake Platte zu finden waren. Sänger Sam Prekop, der erneut mit seiner halb-lasziven, halb-schüchternen, gehauchten Stimme zu jeder Sekunde die passenden Worte und Melodien findet, betonte in Interviews zu "Everybody";"It's a rock album.". Was man eben in Sachen Rock von dieser Band erwarten kann.
Als ich kürzlich im Rahmen dieses Countdowns die Scheibe nochmal in den Player schob, um sicher zu gehen, dass ich hier auch bloß keinen Blödmist erzähle, waren Songs wie "Exact to Me" mit seinen perkussiven, afrikanisch-angehauchten Gitarrenfiguren, die laue Sommerabend-Hymne "Middlenight" und der unbeschwerte, lebensfrohe Opener "Up On Crutches" um ein Haar dafür verantwortlich, dass "Everybody" mit meiner eigentlich gesetzten Nummer eins die Plätze tauschte. Mir geht immer das Herz auf, wenn ich diese durch und durch fantastische Platte höre.
Hört mehr The Sea And Cake!
14.02.2008
Platz 3
Seaworthy - Map In Hand
Eine der großen Entdeckungen des Jahres 2007. Ein musikalischer Balsam, der sich über jede Nervenbahn deines Körpers legt, streichelnd und zärtlich. Und das mit minimalstem Aufwand, möchte man meinen: das australische Trio hat im Grunde lediglich rings um hin- und herwogende Fieldrecordings, sowie Natur- und Windgeräusche spartanische Bambushütten aus dürren Gitarrenimprovisationen und surrenden Feedbacks erbaut, das war's. Das Ergebnis hingegen ist so erfüllend, so reich an Stimmungen und Gefühlen und geradezu überschwenglich bildhaft, wie man es von der beschriebenen Methodik gar nicht recht erwarten möchte. "Map In Hand" fließt unaufhaltsam, geradezu sirupartig zur Körpermitte und entfaltet hier seine heilende Kraft, seine schützende Wärme. 'Natürliche Schönheit kommt von innen', lautete vor Jahren ein Werbeclaim eines Kosmetikherstellers, den man ohne Weiteres auch auf dieses wunderbare, leise Stückchen Musik anwenden könnte.
Es ist für mich immer wieder verblüffend, wie präsent diese eigentlich ätherische Musik ist, wie sie zu jeder Sekunde strahlt, wie intim sie werden kann, wie sie ohne ein Wort zu sagen Geschichten voller Liebe erzählt. Pure Poesie.
10.02.2008
Platz 4
Fennesz/Sakamoto - Cendre
Schon im Mai 2007 war klar, dass "Cendre" einen der vorderen Plätze meiner Jahrescharts einnehmen wird. Die zweite Kollaboration des japanischen Pianisten Ryuichi Sakamoto mit dem Elektronik-Minimalisten Christian Fennesz nach der gemeinsamen "Sala Santa Cecilia"-EP aus dem Jahre 2005 hat mich praktisch ab der ersten Sekunde an den Kopfhörer gefesselt. Es überrascht, wie sehr sich die Pianoarbeit Sakamotos und der hier zerrupft-noisige, da sanft fließende Fennesz'sche Klangteppich auf Augenhöhe begegenen, ohne jemals in einen eitlen Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft ein zu treten. Mal tupft der Pianist seine Töne nur vage in das funkelnde Hintergrundsurren des Österreichers ("Kokoro", "Glow"), mal lässt er mit seiner linken Hand kleine Melodieminiaturen erkennen ("Haru"), die von Fennesz empfangen und in den Gesamtsound weitergeleitet werden. Das Ergebnis bleibt indes gleich: die beiden Künstler sprechen durchgängig eine Sprache, sie teilen eine Vision einer zutiefst melancholischen Musik, die meilenweit von Kitsch einerseits und Hoffnungslosigkeit andererseits entfernt ist. "Cendre" ist introspektiv, hört hinein, erkennt Schatten und will sie ausdrücklich nicht auflösen. "Cendre" will erstmal, dass Du sie überhaupt annimmst. Das ist der erste Schritt.
P.S. Und ist dieses Artwork von Jon Wozencroft nicht zum Schreien schön?
05.02.2008
Platz 5
Gudrun Gut - I Put A Record On
Jedesmal, wenn ich das Solodebut der Berlinerin Gudrun Gut auflege, fällt mir auf, was für ein elend starkes Album "I Put A Record On" ist. Vor allem atmosphärisch ist der Longplayer der blanke Wahnsinn. Die erste Single "Move Me" gibt mit Tango-Flair den Startschuss in eine schwüle, verschwitzt-flirrende Musik, die schwerelos durch wabbelndes Soundgesumme hindurchschwebt, über Clubbeats stolpert und mit Boogie-Woogie einen One Night Stand in einem Berliner Abrisshaus hat. Bei aller Vielseitigkeit der insgesamt elf Songs (darunter eine atemberaubende Coverversion des Smog-Songs "Rock Bottom Riser") behält Gudrun stets einen vibrierenden, flimmernden Großstadtvibe bei, ohne dabei penetrant den mittlerweile ärgerlichen Berlin-Hype zu bedienen. "I Put A Record On" ist stylish, dabei aber sympatisch und sehr natürlich. Ganz selbstverständlich geil.
02.02.2008
Platz 6
!!! - Myth Takes
Meine Sommerplatte 2007 kam von dem Musikerkollektiv !!! und selbst jetzt, im kalten und grauen Januar kommt einem beim Anhören von "Myth Takes" nur ein Bild in den Sinn: ein angesagter, stylischer und voller Club in einer heißen Julinacht, zuckende Leiber und das gute Gefühl, dass nichts, aber auch so rein gar nichts unsere Euphorie bremsen kann. Wir sind jung und wir leben. Und scheißrein: es geht uns gut.
Dass das legendäre WARP-Label seit einigen Jahren nicht nur einen weiterhin guten Riecher für elektronische und experimentelle Musik hat, sondern auch in Sachen Indierock expandiert, dürfte spätestens seit Maximo Park bekannt sein. !!! platzieren sich stilistisch zwischen Funk, Elektronica und ebenjenem Indierock, mit so manchem Querverweis zum Soul und zur Post-Punk Szene der frühen achtziger Jahre und deren "Anführern" The Talking Heads. Die drei Singles "Must Be The Moon", "Heart Of Hearts" und "Bend Over Beethoven" stechen zweifellos heraus, aber nicht nur jene Highlights sind frisch und sexy wie Sau: schon das Eröffnungsduo mit dem schrägen Opener und Titeltrack und dem hektisch-flirrenden "All My Heroes Are Weirdos" lässt mich in der formschönen Feinripp-Unterhose über sämtliche Tische wackeln und das prickelnde Bad im Schampus nehmen. Selbst Sven "Feierei" Väth wackelt und badet mit; er bezeichnete den Vorgänger "Louden Up Now" als eine seiner Lieblingsplatten. Das läuft zugegebenermaßen unter der Rubrik "Vermischtes & Triviales", zeigt aber auch, dass !!! nicht nur für Rockfans interessant sind, die den letzten Trentemöller-Schnarchsack "The Last Resort" hören und sich dabei sehr open-minded fühlen.
01.02.2008
Platz 7
Gui Boratto - Chromophobia
Der Mitschnitt vom Gui Boratto-Set auf der Kölner Kompakt-Labelparty war der Anfang vom Ende meines Widerstands gegen ein Genre, für das ich früheren Zeiten keinerlei Verständnis aufbringen konnte. Im Wortsinn. Aber das...eine extatische, mitreißende Musik, die mich ab der ersten Sekunde mit positiv geladenen Teilchen beschoss und so hell und lebensbejahend wie drei Kugeln Zitroneneis bei 38°C schmeckte. Beim darauffolgenden Album "Chromophobia" war es dann ganz um mich geschehen, ich musste dem Techno "Guten Tag!" sagen.
Verblüffend, wie der Brasilianer eine Musik, die wahrlich nicht für den Tonträger gemacht wird, so lebhaft und spannend auf sage und schreibe 70 Minuten präsentiert, ohne dass einem, wie bei manch anderer Scheibe des Genres, die Füße einschlafen. Wo andere aufhören, fängt Boratto erst richtig an. Nicht nur die offensichtlichen Tanzflächenfeger "Terminal" "Mr.Decay" oder das absolute Highlight "Beautiful Life" treffen ins Schwarze, für mich sind insbesondere die ungewöhnlicheren Tracks wie das durch die Tiefsee tauchende "Acróstico", das aufgrund seiner geradezu opulenten Melodie haarscharf am Kitsch entlangschrammende, trotzdem subtil groovende "Xilo" oder der starke Titeltrack (Hypnose, verdammt!) die für dieses Album unverzichtbaren Helden, die letztendlich dafür verantwortlich sind, dass "Chromophobia" auch heute noch regelmäßig seine Runden im Player dreht. Ganz Außergewöhnlich.
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