26.09.2010

Verschollen im Licht


ALICE COLTRANE - LORD OF LORDS


Soweit mir bekannt ist, wurde "Lord Of Lords" aus dem Jahr 1973 bisher lediglich in Japan auf CD (wieder)veröffentlicht und ist heute nur für eher absurd zu nennenden Geldbeträge käuflich zu erwerben. In Zeiten von Downloads interessiert das vermutlich "keine müde Sau" (Hagen Rether) mehr, aber verwunderlich ist es angesichts des Re-Issue-Wahnsinns schon ein wenig, ist es nicht? Zugleich ist es ihre letzte Arbeit für das Impulse!-Label, das sie nach nach den Aufnahmen in Richtung Warner Bos. verließ. Als sich der Jazz in den frühen siebziger Jahren in Richtung Rockmusik auf der einen und Funk und Soul auf der anderen Seite entwickelte und damit extrovertierter und massentauglicher wurde, ging Alice stattdessen nach innen: ihre Werke wurden immer spiritueller und erhielten einen stetig stärker werdenden Bezug zur indischen Musik, aber auch zur Klassik. "Lord Of Lords" ist dabei kaum mit ihren früheren Alben wie "A Monastic Trio" oder dem unglaublichen "Ptah, The El Daoud" zu vergleichen: unter der Leitung von Coltrane selbst, dem Produzenten Ed Michael und dem ersten Geiger Murray Adler entsteht ein exklusiv orchestrales Prachtstück eines 28-köpfigen Orchesters (inklusive Ben Riley am Schlagzeug und Charlie Haden am Bass), das deutlich die in den kommenden Jahren stattfindende Entwicklung vorgibt. Bereits auf dem gleichfalls fulminaten "Journey In Satchidananda" (1970) konnte man spätestens bei "Something About John Coltrane" und dem abschließenden "Isis And Osiris" schon erkennen, was da noch alles auf uns zukommen sollte: große, ausfüllende Epen, die eine tiefe Theatralik und Romantik versprühen, etwas, was ich leicht süßlich durchaus als Herzenswärme wahrnehme. 

Ich verbrachte erst letzte Woche einen ganzen Tag mit "Lord Of Lords". Immer und immer wieder setzte ich die Nadel erneut zurück und dann wieder auf, es war als sei meine Wohnung mit purpurnem Licht ausgefüllt. The healing colours of sound oder was, jedenfalls: bis auf das Ende des Titelsongs, in dem eine kleine Verwandschaft zu Coltranes früheren, ja nicht immer kantenlosen Freejazz-Ausflügen aufblitzt, ist ihr siebtes Album an klassischer Musik angelehnt, und hier besonders an das Werk Igor Stravinskys, dessen "Feuervogel" sie folgerichtig und in Auszügen auf "Lord Of Lords" verarbeitet. Hinzu kommt ein soundtrackartig arrangiertes Traditional "Going Home", das einem die Tränen der Rührung in die Augen treiben kann.

Freunde ihrer Mitt-Siebziger Alben wie "Eternity" oder "Radha-Krisna Nama Sankirtana" (wenn man die allzu gegenwärtigen und oftmals nicht leicht verdaulichen Mantra-und Buddhisten-Verweise etwas beiseite räumen mag), werden mit "Lord Of Lords" eine große Freude haben. Und ich kenne damit immer noch kein Album von Alice Coltrane, das ich nicht den wortwörtlichen Heiligenschein ausstellen würde.

Erschienen auf Impulse!, 1973

21.09.2010

I'm fucking staaaarving!


NICE NICE - EXTRA WOW

Astrein auf das falsche Pferd gesetzt. Nach der großartigen Vorabsingle "Sea Waves", die ich kürzlich auf dem Seziertisch hatte, konnte man davon ausgehen, dass sich das Duo Jason Buehler und Mark Shirazi auch auf Albumdistanz etwas handzahmer und poppiger geben würden, aber nix da: schon der Eröffnungstrack "Set And Setting" nagt an den Nervensträngen, ist laut, fauchig und kratzig. Das scheppert wie Hölle und ist fast ein bisschen unangenehm - also schlicht fantastisch.

Darüber hinaus sind auch die übrigen Tracks von "Extra Wow" nicht das, was man gemeinhin als massenkompatibel bezeichnen könnte, genau genommen nicht mal im Ansatz, dafür sorgt alleine der blecherne, unkontrolliert wirkende Sound, der alles dafür tut, dich bloß nicht zu dolle in Sicherheit zu wiegen. Und trotzdem: die Grundsubstanz ihrer Songs ist gar nicht mal so kantig , wie sich das auf das erste Hören anfühlen mag. Der große rote Faden innerhalb ihrer Kompositionen ist allgegenwärtig, er wird nur durch gefühlt hunderte von Layern, Beeps und Glitches ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Selbst wenn sie wie ihn "A Little Love" das Schweben anfangen und auf einem Berg aus mit Metallsplittern verfeinerter rosa Zuckerwatte Tele Tubbies niedermetzeln, achten sie fast überpenibel darauf, bloß nicht zu anschmiegsam zu werden. Nichts von all dem erscheint real, es sind Andeutungen und Reflexe, die das Bild von "Extra Wow" prägen. Kaum greifbar, sind sie im nächsten Augenblick im Off verschwunden, um im selben Moment von neuen Schattierungen und Blitzen ersetzt zu werden. Es ist das unendliche Rad des Wahnsinns, das die beiden mit großer Wucht immer wieder neu anschieben.

Nice Nice sind rast- und ruhelos. Getrieben von der eigenen Kratzbürste, verschwommen dank der eigenen Nebelbank. Hitzig, hektisch, hormonell unausgelastet? Mit diesem Album gehst Du durch Butter wie mit einer Wand, quatsch, "durch einen Elefanten wie durch Marmelade" (G.Polt), jedenfalls: soweit mich die Beruhigsmittel, die Schulterpolster und der Irrsinn obenrum tragen, solange kann ich mit Nice Nice im Fegefeuer tanzen. Super-Sci-Fi-Post-Wave Rabimmel Rabammel Rabumm von zwei offensichtlich Bekloppten.

Es ist prima, aber es strengt an.

Erschienen auf Warp, 2010.

07.09.2010

Obsessed With Beauty


KEITH JARRETT - RADIANCE

"Wenn ich inspiriert werden will, höre ich Karl Dall." (M.Hanuschke)



Er kommt aus dem vielzitierten Nichts und tastet, manchmal springt und hoppst er, prescht ungebremst voran, in eine Nebelbank, in der nur er sich auskennt. Ist da tatsächlich immer die Geschichte als solche im Hintergrund, die Noten abgespeichert wie auf der leistungsstärksten Festplatte der Welt, atemberaubende Zugriffszeiten und flexibel wie ein Gymnastikband? Oder ist das alles nur Gerede, ein Mythos, Scharlatanerie gar?

"Radiance" ist reich. Es hat manchmal den Anschein, als sei Jarrett gar nicht alleine auf der Bühne in seinen stream-of-consciousness verstrickt, als seien hier mindestens drei weitere Flügel an Bord, die ihn unterstützen - und auch wenn das definitiv nicht der Fall ist - auf eine gewisse Weise ist das ja trotzdem richtig. Denn wenn er sie schon nicht auf der Bühne hat, hat er sie ganz bestimmt im Kopf. Er türmt Schichten und Patterns auf- und übereinander, gräbt sich unterirdische Tunnel, die früher oder später zu Fluchtwegen umgebaut werden können, verästelt Strukturen und Oberflächen zu großformatigen, abstrakten Bildern auf einer Notenleinwand, die nur er im Oberstübchen mit Leben füllt. Mich würde in diesem Zusammenhang ja mal interessieren, was neben dem, was sich dann letzten Endes den Weg in die Finger bahnt, so alles links und rechts abseits des Wegen von ebenjenem hinunterfällt, in die Tiefe des Jarrett'schen Nichts. Wenn schon das, was er uns hier vorzaubert, innerhalb von Sekunden und Augenblicken veraltet und irrelevant geworden ist - was passiert dann erst mit der Energie, die er aufwendet, um sich zu dem eigentlichen Ergebnis vor zu schieben, sich überhaupt zu bewegen?

Denn eines ist sonnenklar: "Radiance" zeigt das abgeschlossene System Jarrett, und Energie kann nicht vernichtet werden. Was in der Folge aber auch bedeutet, dass hier nichts ohne den Tod der Töne entsteht, ohne seinen Tod. Ohne Rauch kein Feuer, ohne Verlust kein Gewinn, ohne Scheitern kein Triumph. Ja, die Sache mit dem Scheitern. "Sie denken zu viel." hat er einem Zeit-Redakteur mal an den Kopf geschmissen, nur um danach auszuführen, wie groß der Einfluss von Konzertsälen oder den Zuhörern auf die Musik sein kann und wie man außerdem einen Konzertsaal mittels der Kraft der Töne aus Deutschland nach Italien überführen könne. Also ein strahlendes Beispiel tadellos vorgetragener Emotionen. 

Aber: Ohne Chaos keine Improvisation, erstrecht nicht von Keith Jarrett. "Was abstrakt klingt, gehört zum verbindenden Gewebe" hat er einmal gesagt und auf "Radiance" hört man ziemlich viel verbindendes Gewebe. Es gibt große Momente, in denen mir selbst beim Zuhören fast schwindelig wird (ich meine das übrigens so, wie es da steht), und dabei ist es überraschenderweise egal, ob Jarrett gerade seine Hände Amok spielen lässt, oder ob er eine der wunderbaren Balladen anstimmt, die eine Tiefe, Anmut und Eloquenz versprühen, dass mir spontan kein Vergleich einfallen mag.

Ich kann "Radiance" beileibe nicht zu jeder Tag- und Nachtzeit hören, aber ich lege es vornehmlich dann auf, wenn ich ruhige, weiche Musik hören möchte - dabei ist das Album in weiten Teilen weder ruhig noch weich. Was Jarrett jedoch für mich auf diesem über zweistündigen Trip repräsentiert, ist der Mann am Klavier, weder einsam noch deprimiert, sondern höchst emotional und hellwach an einem Entwurf arbeitet und dafür sein Innerstes, seine Freude und Euphorie, als auch seine Furcht und seine Zweifel in die Hände gleiten lässt. Jarrett ist somit bei aller Stärke und vor allem bei aller Kompromisslogkeit verwundbar, er ist zahm, er ist anschmiegsam. Ich denke das ist es, woher ich den Eindruck erhalte, "Radiance" sei bestens für den Soundtrack für das eigene Zurückziehen geeignet. Vielleicht lernt man ja was fürs eigene Leben.

Erschienen auf ECM, 2005.

03.09.2010

Rockmusik 2010


DISAPPEARS - LUX

Ja scheiß' die Wand an, "Lux" bummst mich gerade um die nächsten Häuserblocks und stürmt meine Jahrescharts. Die Experimental-Spezialisten Kranky kümmern sich also nun um das Quartett aus Chicago, das dieses Debut bereits vor einigen Jahren via Touch & Go herausbringen wollte, was durch die Schließung des legendären Labels aber verhindert wurde. Und es ist gut, dass sich jemand der Veröffentlichung angneommen hat, denn "Lux" ist eine kleine Sensation.

Disappears bauen Wolkenkratzer in die Erde hinein: tief, monoton, scheppernd, mit Gitarrenwänden so dick wie die Hüllen eines Luftschutzbunkers. Dabei bei Weitem nicht so sauber und poliert wie die grundlegend vergleichbaren Black Rebel Motorcycle Club, eher kaputt und dreckig, fies und verdrogt.

Als hätten sich die Young Marble Giants, My Bloody Valentine, Velvet Underground, Hawkwind, Motörhead und die verdammtem Melvins zu einer Jam-Session Mitte der achtziger Jahre getroffen. Bedingung: Kellerloch, Schimmel an den Wänden, kein Tageslicht, Sonnenbrillen, Zigaretten, Trockeneisnebel, rotes Licht, Feedback, Echo, Hall, Delay, Schleifen, Rauschen, Wabern und Ficken. 

Erschienen auf Kranky, 2010.