Sam Rivers - Dimensions & Extensions
Selten zuvor klang Atonalität wärmer. Den Satz habe ich mir zugegebenermaßen aus Robert Palmers Linernotes zu Sam Rivers' viertem Album für Blue Note stibitzt; er erschien mir als Einleitung durchaus angemessen. "Dimensions & Extensions" kann natürlich ziemlich viel mehr sein als lediglich "warm" und "atonal", als Zusammenfassung stehen die beiden Begriffe jedoch stellvertretend für einen Jazz, der sich zwischen der Avantgarde und dem Hardbop bewegt und angesichts seiner ausgerissenen, reduziert wirkenden Strukturen dennoch als erstaunlich zugänglich präsentiert.
Rivers war ein Jazz-Spätstarter. Erst mit 41 Jahren nahm er seine erste Platte als Leader für Blue Note auf ("Fuchsia Swing Song", 1964), womit er gleichzeitig zu einer der letzten Neuentdeckungen der klassischen Label-Ära gehörte. Als Blue Note 1966 an Liberty Records verkauft wurde, saß dessen Gründer Alfred Lion zwar noch in der Produktionskette, und obwohl er diese letzte Aufnahmesession Rivers' für das Label im Jahr 1967 noch begleitete, ihr einen Titel, eine Katalognummer und gar ein Cover auf den Leib schneiderte, blieb "Dimensions & Extensions" für viele Jahre unveröffentlicht. Erst 1987/88 durfte das Werk als eigenständige Ausgabe das Licht der Welt erblicken, nachdem es bereits 1976 an ein Andrew Hill-Album ("Involution") gekoppelt war und als Doppel-LP-Set erschien.
Ob Alfred Lion sein Veto einlegte und damit für die Verzögerungen sorgte, weil ihm einige neue Strömungen im Jazz, wie kolportiert wird, nicht mehr zusagten, ist mir nicht bekannt. Schließlich ist "Dimensions & Extensions" eine echte Herausforderung. Alleine der Blick auf die Zusammensetzung der Band sorgt für die ein oder andere hochgezogene Augenbraue: ein Sextett ohne Piano, dafür aber mit nicht weniger als vier Bläsern, deren Auswahl ebenfalls überraschen musste, wenngleich sie ein guter Indikator für Rivers Hardbop-Verwurzelung auf der einen und seinen konzeptionell-freien Ansatz auf der anderen Seite ist: Donald Byrd (Trompete), Julian Priester (Posaune), James Spaulding (Altosaxofon, Flöte) und Sam Rivers selbst an der Flöte und am Alto- und Tenorsaxofon. Hinzu kommen Cecil McBee am Bass und Steve Ellington am Schlagzeug.
Und es ist in erster Linie das Brass-Quartett, das dem Affen ordentlich Zucker gibt. Spätestens im wilden, ungestümen "Effusive Melange" brechen alle Dämme, ein Gebrodel aus Überblasungen, aus ineinander verwirbelten Stimmen, aus animalischen Schreien. Dazu ein entfesselter Ellington, der die Töne seiner Becken wie Gischt durch eine dunkle Nacht sprühen lässt und der sich an manchen Stellen sicherlich selbst fragt, ob er schon im Speed Metal angekommen ist. Dagegen erscheint das Eingangsduo "Precis" und "Paean" fast schon handzahm, obwohl auch hier die Funken sprühen: das gebrochene Solo Byrds im Opener, die schiere Wahnsinnsposaune von Julian Priester im Eröffnungssolo von "Paean" und die Komplexität in den atonalen Bläserarrangements mit vielen versteckten Harmonien (besonders in Verbindung mit den harmonischen Sprüngen eines McBee) machen großen, großen Spaß. Hier zahlt sich die Entscheidung Rivers' aus, auf das Piano zu verzichten. Die so entstandenen Freiheiten werden von den Musikern beeindruckend genutzt. Außerdem hilft der Tastenrückzug dabei, die Konturen dieses Albums zu schärfen. "Dimensions & Extensions" klingt reich und voll, die Themen und Motive sind klar und trotz all des freien Spiels mit Raum und Zeit, in denen sich Rivers übrigens im verwehten und suchenden "Afflatus" fast verläuft, handelt es sich um ein homogenes, versöhnliches Werk. Springlebendig, rasant, risikoreich und ungemein kraftvoll.
22.05.2009
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