25.01.2012

2011 #8 - Charles Bradley °° No Time For Dreaming



Ich hörte im März des vergangenen Jahres zum ersten Mal von Charles Bradley, diesem mysteriösen Mann, der 1962 im Apollo Theater von James Brown erleuchtet wurde, der seinen Job als Küchenchef schmiss und seitdem als übersichtlich erfolgreicher Zeremonienmeister des Soul durch kleine Clubs tingelte und unter anderem Songs seines großen Vorbilds interpretierte. Wie schon bei der gleichfalls in der bisherigen Jahresbestenliste gefeierten Sharon Jones sind das die Geschichten, die die Menschen immer noch faszinieren. Also wenigstens mich kleinen Naivling.

"The World (Is Going Up In Flames)" war die erste offizielle Video-Singleauskoppelung eines Albums, das nicht wirklich aus dem Nichts kam: nach seiner Entdeckung durch den Daptone Records Labelchef Gabriel Roth im Jahr 2002 - selbstredend bei einer James Brown Tribute-Show - erschienen nicht weniger als sieben Singles, die zum einem Teil bereits die Songs von "No Time For Dreaming" vorwegnahmen. Ich sah das Video zum erwähnten Song, und ich muss zugeben, dass ich sofort zappelnd am Haken hing. Mit der Menahan Street Band im Rücken hat Bradley genau das richtige Fundament für seine rauhe und kratzige Stimme, die sein Leben in Worte und Töne verpackt, die alles herausschreit und die, so scheint's, seine Seele heilt. Die Band spielt keinen Hurra-Soul, sie reagiert auf die sozialkritischen und sehr persönlichen Texte mit viel Raum, mit viel Melancholie und groovt, von gelegentlichen Ausreißern, wie der tollen Trompete bei "How Long" oder dem kurzen Instrumental-Interlude "Since Your Last Goodbye" abgesehen, nicht selten als ein Kollektiv aus Strippenziehern im Hintergrund souverän vor sich hin.

Die Produktion folgt dieser Marschrichtung: sie lässt einige freie Flächen für den nötigen Schmutz zwischen Mikrofonständer, verhuschter Gitarre und der schnorchelnden Orgel herumliegen, um "No Time For Dreaming" nicht zu einer aalglatten Altherrenveranstaltung verkommen zu lassen. Ganz im Gegenteil, und das ist vielleicht das überraschendste Element dieses Albums: selbst wenn der Sound und die gesamte Ästhetik ganz klar auf den Soul und Blues der 60er und 70er Jahre setzen, klingt "No Time For Dreaming" trotz allem nicht alt, sondern modern und im Ganzen durchaus zeitlos. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass mir persönlich nur wenig an der Rückschau als Vergangenheitsbewältigung liegt. Ich lebe hier und heute und es fühlte sich komplett falsch an, würde ich einen Mann wie Charles Bradley in die große Schublade der manischen Zurückblicker stecken, die den Retro-Soul zum Zweck des sich füllenden goldenen Sparschweins durch das Dorf treiben.

Charles Bradley ist viel mehr als das. Das kann man hören. Das lässt sich aber auch spüren.

Erschienen auf Dunham Records, 2011.

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