25.02.2024

Best of 2023 ° Platz 13: Mary Yalex - Fantasy Zone




MARY YALEX - FANTASY ZONE

„Jemand, der es über vierzig Jahre mit Helmut Kohl aushält, der kann nicht harmlos sein.“
(Elke Heidenreich)

Der Auswahlprozess für die auf meinem Lieblingslabel A Strangely Isolated Place erschienenen Alben für die jährliche Bestenliste ist, um einem Blick in innere Zerwürfnisse die Ehre zu geben, dank meiner liebevoll gehegten charakterlichen Unzulänglichkeiten im beinahe sekündlichen Entscheidungskampf des Lebens: ein völliger Clusterfuck. Vor einigen Jahren hatte ich mich bewusst dazu entschlossen, mich einfach kopfüber in den Fluss zu werfen und also alles zu kaufen, was Ryan auf dem seit 2008 operierenden Label veröffentlicht. Der Name, das Design, die Ästhetik und nicht zuletzt das kuratierte Repertoire von Künstler*Innen und deren Musik entwickelte eine mächtige Anziehungskraft; hier fühle ich mich seitdem gut aufgehoben und spüre bei den allermeisten Veröffentlichungen eine tiefe Verbindung. Es gibt Ausnahmen, aber selbst in diesen seltenen Fällen gibt es immer noch einige Resonanzräumchen, die das Leben bereichern. Kurz gesagt: This is my house! Andererseits: ich möchte auch nicht ausnahmslos jede ASIP-Platte des Jahres in die Top 20 aufnehmen, auch wenn mir das den Ablauf des alljährlichen Aussiebens wenigstens etwas erleichtern würde. Aber so billig komme ich hier nicht raus. 

Im Falle von "Fantasy Zone" der in Deutschland lebenden Produzentin Mary Yalex war die Entscheidung indes einfach. Der Berührungspunkt mit dieser introspektiven, sich langsam ins Innere vorantastenden Musik entstand bereits unmittelbar beim Opener "Air", einem sanften Nachtflug mit Nostalgiepanorama, der sofort Gefühle von Vertrautheit und Geborgenheit aussendet. Viel mehr offene Türen kann ich mir also gar nicht mehr einrennen lassen. Zentral scheinen mir zwei Aspekte ihrer Musik zu sein. Zunächst sind es die Melodien, die mal knapp unter dem Wahrnehmungsradar liegen und sich dort in die Weite verästeln, wo sie langsam ausrollen und sich verflüchtigen, oder mit einigem Selbstbewusstsein die Färbung einer Stimmung manipulieren. Nicht, dass sich beides notwendigerweise ausschließen müsste, aber diese kleinen Blitze von in Sepia getauchter Melancholie oder auch kindlich funkelnder Lebensgeister prägen die Reise durch die "Fantasy Zone". Mary sagt in einem Interview mit dem Label, dass jede neue Musik mit einer guten Melodie als Kern des Stücks beginnt und ich finde, das hört man. 

Des Weiteren finde ich den Hinweis aus dem selben Interview bemerkenswert, dass die Musikerin seit ihrer Kindheit malt:


"I used to paint in my childhood when I lived in Austria. I only really started producing electronic music more recently. I want to give the whole thing a picture - something that is more than just a photograph." 


Mir wird das vermutlich niemand glauben, und ich kann auch nicht ausschließen, das Interview zum Release des Albums im August 2023 bereits mal gelesen zu haben, aber bei der tiefergehenden Beschäftigung mit "Fantasy Zone" fiel mir die Weichheit auf, mit der diese Sounds gestaltet sind, wie nuanciert und mehrschichtig sie miteinander interagieren, sich anziehen und sich verbinden. Das ist in seiner feinfühligen Machart ein herausragendes Merkmal dieser Platte. Als ich auf der Suche nach einem passenden sprachlichen Bild dafür war, kamen mir als erstes die Pinselstriche auf einer Leinwand in den Sinn, um die eleganten und subtilen Schwingungen in der Musik zu beschreiben. Als mich die  Recherche schlussendlich zum Interview führte, schloss sich dieser Kreis - und ich staunte nicht schlecht. Nun ist die Argumentation nicht so irre weit hergeholt, im Gegenteil ist es ja sogar recht naheliegend. Aber dafür, dass selbst meine Wenigkeit mit eher teilmöbliertem Dachboden in der Lage ist, ein Gespür für diese Verbindung aus Malerei und elektronischer Musikproduktion zu entdecken, klopfe ich mir mal verblüfft selbst auf die Schulter. 

"Fantasy Zone" ist ein Refugium. Ein Schutzschirm gegen Schwachsinn, Lautheit, Krawall. Es zählte in den vergangenen Monaten zu meinen meistgehörten Platten.


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.


P.S.: An jene Vinylfreunde, die den ganzen Krempel nicht nur kaufen und anschließend verschweißt ins Regal stellen, sondern die Platten tatsächlich auflegen - sowas soll's ja tatsächlich noch geben: ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass einige Exemplare offenbar Probleme mit einkanaligem (ist das überhaupt ein Wort?!) Knistern haben, vor allem auf der A-Seite. Also: Augen und Ohren offenhalten.  

18.02.2024

Best of 2023 ° Platz 14: Vril - Animist




VRIL - ANIMIST


"Slapping hands is the lowest form of male primate ritual." (Jerry Seinfeld)


Wollte ich's ganz dicke auftragen, könnte ich schreiben, dass "Animist" ein Fenster zur Zukunft öffnet. Das geht überraschend leicht von der Hand, weil Vril hier gleichfalls dicke aufträgt: die Breite des Sounddesign, die Dimensionen der Arrangements, die multiversen Vibes, die brodelnden Emotionen - alle Regler sind nach oben geschoben. Und doch ist das alles so subtil miteinander verbunden, dass ich es erst entdeckt habe, als ich mich in dieses Netz fallen ließ und im Grunde eins mit ihm wurde. Into the abyss.

Eigentlich ist die Sache zwischen Technoalben und mir oft nicht ganz unheikel. Ich habe in den letzten zehn Jahren mehr als nur eine Platte wieder veräußert, weil sie zu anschmiegsam erschienen, weil ich keine Risse, keine Kanten, keine Reibung fand.  Weil der Drive in irgendeiner kritischen Abrundung plötzlich nur noch ein sanftes, zärtliches Wippen war. Der schwerwiegendste Kollateralschaden ist in solchen Fällen der Verlust von Ebenen und Flächen, auf denen sich Bilder entwickeln, sich eine Innerlichkeit ausbreitet. Ich kann der Musik dann oftmals instinktiv nicht nachspüren und versande stattdessen im reinen Schönklang. Nicht, dass ich Erlösung einzig dadurch erfahre, stets nackt und kopfüber in die Kreissäge springen zu müssen, zumal es ja nur wenig Schöneres gibt, als sich stundenlang in weichfusseligen Ambientteppichen zu wälzen. Wenn das Leben allerdings nach etwas Vitalerem verlangt, dann verheddere ich mich nur ungern in rosa Zuckerwatte. 

Die Tektonik von "Animist" ist komplex. Seine Bewegungen sind subkutan und expandieren ins Äußere der Wahrnehmung, lagern sich ein in tiefere Schichten und bauen dort Stück für Stück eine Brücke zurück in die Realität, organisch und selbstbestimmt. Und sie bauen diese Verbindung mit beinahe beänstigender Unerbittlichkeit. Es gibt praktisch keine Auflösung, weder als artikulierter Klimax, noch als entlastende Deeskalation. Es ist jene aus dieser Spannung heraus um sich greifende Intensität, die das Unterbewusstsein piekst, ins Innere kriecht und die Wahrnehmung demoliert. In den weichen Sternenbild-Pads des Openers und Titeltracks finde ich beispielsweise eine der Zukunft zugewandten Euphorie, eine Neugier und Abenteuerlust mit fiebriger Aufbruchstimmung - als stünde ich persönlich auf der Kommandobrücke der Enterprise im Jahre 2894, auf dem Weg in unerforschtes Terrain, mit Warp 12. In "Mortem Cellula" hingegen hält mich die schwarz-staubige Industrialästhetik im Tunnellabyrinth eines im Sterbeprozess befindlichen Universums gefangen, in Staub und Schmutz gehüllt, isoliert und auf mich alleine zurückgeworfen, die inneren Dämonen bekämpfend, bis aufs Messer. 

"Animist", um den Faden zum Einleitungssatz wieder aufzunehmen, fühlt sich an, als hinterließe es seine Spuren ein paar Jahre vor unserer Zeit. Ich kann das nicht genau erklären, und die Zeit ist so oder so ein bad motherfucker, der mir schlaflose Nächte bereitet - and not in a good way. Aber manchmal scheint es mir, als wäre "Animist" aus der Nachwelt gekommen und versucht, uns die bevorstehende Verschmelzung der Utopie mit der Dystopie zu zeigen. Nicht als Gegensatz, sondern als eine Entität. 

Das Leben wird hart. Aber es wäre um ein Vielfaches härter, wenn wir uns nicht mehr haben.


 


Erschienen auf Delsin, 2023.

10.02.2024

Best of 2023 ° Platz 15: SPELLLING - Spellling & The Mystery School




SPELLLING - SPELLLING & THE MYSTERY SCHOOL


„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Theodor W. Adorno)


Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft. 

Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an. 

Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert. 

SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören. 



   



Erschienen auf Sacred Bones Records, 2023.

04.02.2024

Best of 2023 ° Platz 16: Hollie Kenniff - We All Have Places That We Miss



HOLLIE KENNIFF - WE ALL HAVE PLACES THAT WE MISS


"Die häufig beobachteten Phantasiezusammenstellungen müssen in Fortfall geraten." (Krawinkel)


Ein Album für die frühen Morgenstunden des Tages. Für die Zwischenwelten, in denen sich die Welt noch nicht entscheiden kann, ob sie das Licht anknipsen soll oder nicht. Für die Einkehr, das Zurückgeworfen-Sein auf die eigene Geschichte. Für die Kontemplation, für das Erspüren der Intuition. Für den Nachhall der Erinnerungen. Für den Versuch das Vergängliche zu umarmen, und sei es nur für den Moment des Augenblicks. Für das Unbegreifbare.

Die Musik von "We All Have Places That We Miss" legt sich wie ein sanfter, heller Schleier über das Leben. Sie glitzert, funkelt, geht bis in die feinstofflichen Ebenen der Wahrnehmung. Sie breitet sich aus, wird weit, füllt auf, ist schwärmerisch, weich, sentimental. 

Mir fiel im letzten Drittel des vergangenen Jahres auf, wie oft sich mein Leben immer wieder auf dieses Album einlassen wollte. Immer war es in greifbarer Nähe, als Antidot gegen den Lärm, aber auch als tröstendes Wärmepflaster gegen den Schmerz des Verlusts unseres Hundes Fabbi, den wir im Juni 2023 nach langer Krankheit auf die andere Seite des Regenbogens ziehen lassen mussten. Die Auseinandersetzung mit dem Loslassen fällt mir traditionell sehr schwer und die Anerkennung des Rationalen scheint in solchen Momenten unmöglich. Und egal, wie oft nach einem Ausweg gesucht wird - der Einschlag kommt, und er ist immer unbarmherzig. Es gibt nichts Radikaleres als die Wahrheit. 

"We All Have Places That We Miss" ist auch aus dieser Perspektive betrachtet zwischenweltlich, weil es nichts ausspart und nichts bagatellisiert. Das monumental Tragische, die Furcht und die Trauer stehen in direktem Einklang mit der tief empfundenen Dankbarkeit und Liebe für das Leben. Es gibt jene flüchtigen Momente, in denen mir das klar ist. 


   


Erschienen auf Western Vinyl, 2023.