28.04.2016

Driftwood




Hey, der November ist zurück. Mit etwas mehr Farbe an Baum, Busch und Rasen, zugegeben, aber die wärmenden Sonnenstrahlen von vergangener Woche sind nur noch müde Erinnerung. Es ist wieder arschkalt. Und ich habe mich von den Sonnentagen sauber verwirren lassen: die morgendliche Modeauswahl mit mintgrünem Hipsterschal, einem leichtem Leinensakko und Kurzarmhemd sind jetzt für den Popo, die sorgfältig zusammengestellte Parfumkollektion für den Frühling wandert zumindest vorübergehend wieder in den in einer abgedunkelten Ecke meiner 3,40qm stehenden Humidor (wegen der Duftmoleküle!) und wird mit den trübdiesigen Herbstdüften ausgetauscht, und auch die beschwingte Locker-Wie-Ein-Himbeer-Haferflocken-Brennessel-Smoothie-Musikauswahl, die mir in den letzten Jahren zur liebgewonnenen Tradition wurde und mich also jedes Mal aufs Neue in die scheue Frühlingssonne begleitete, um dem ollen Dreckspenner Winter mal zu zeigen, dass man auch als alternder und mürrischer Misanthrop noch sowas wie Lebensfreude, Leidenschaft und Begeisterung spüren kann, wenn die Quecksilbersäule die +15°C-Marke übersprungen hat, erscheint bei sagenhaften drei Grad plus, Starkregen und Noch-Stärker-Wind plötzlich schrecklich unangemessen.

Aber er kommt, der Frühling - und wenn's September wird: auch gut!!einself! Und zur Vorbereitung auf das, was da so kommen mag - also Sonnenbrand, Mückenstiche und halbnackte, tätowierte und schwitzende Stiernacken vor der nächsten in einer unschuldigen Fußgängerzone aufgestellten Latrine aus dem Hause Hollister - tut's auch ein frischer Winterabend im Beinahe-Mai. 

Vor vier Jahren hat DJ Eric Cloutier einen Mix seiner 12"-Sammlung des mittlerweile nicht mehr existierenden Labels Driftwood via Soundcloud veröffentlicht, im Jahr 2016 hat Placid_88 aka Paul Wise aus Bristol nachgelegt. Driftwood brachte zwischen 2000 und 2002 lediglich zehn 12"-Inches heraus, die mittlerweile nicht nur im Klassikerkanon des Deep und Tech House auf ewig festbetoniert sind und von einer eingeschworenen Fangemeinde geradezu kultisch verehrt werden, sondern deren physische Kopien darüber hinaus für schwindelerregend hohe Geldbeträge den Besitzer wechseln. Die normale Version eines solchen Exemplars, also ohne das Testpressungs- und Whitelabel-Promo-Klimbim, gibt es kaum für unter 75 Euro, während nach oben nur the sky the limit ist. Und auch wenn es nur zehn Releases sind: das läppert sich. 

Der Mix von Placid lief folgerichtig letzte Woche bei 20°C, Acqua di Parmas "Colonia" und mit, äh, mitgrünem Hipsterschal auf Endlosschleife, auch und ganz besonders deswegen, weil ich gerade keinen Tausender übrig habe, um Discogs leer zu kaufen. In erster Linie aber, und das ist der springende Punkt: man kann schon verstehen, warum sich sowohl das tanzende Volk als auch die urbanen, vor sich hin dampfenden Intellektuellen darauf verständigt haben, Driftwood als eines der größten, besten, tollsten Labels der Szene zu adeln. 

Wenn man es mal gehört hat.

Könnt ihr jetzt auch. 

Hören. Und Downloaden kann man es auch noch. 

Enjoy. 




23.04.2016

Phoenix aus dem Aschenbecher



FATES WARNING - DARKNESS IN A DIFFERENT LIGHT


Die wahren, echten, treuen Metaller müssen jetzt sehr stark sein: für mich beginnt die große Zeit der US-amerikanischen Progressive Metal Band Fates Warning mit ihrem Album "Parallels" aus dem Jahr 1991 und endet mit dem 1997 veröffentlichten "A Pleasant Shade Of Grey" - das zwischen diesen beiden Scheiben liegende "Inside Out" ist sogar mein persönlicher Favorit, nicht zuletzt wegen immer noch vorhandener und positiver Erinnerungen an den Sommer des Jahres 1994, der mir von Vicious Rumors' "Word Of Mouth", Tiamats "Wildhoney" und eben "Inside Out" versüßt wurde. Und da weint er, der Kuttenmann: die Frühphase der Kapelle mit den Alben "The Spectre Within" und "Awaken The Guardian" und mit dem immer noch kultisch gefeierten Sänger John Arch hat mich einfach nie gepackt, ich kann's nicht ändern. Und wo wir schon bei den großen Beichten des Stahls sind: ich habe auch Mercyful Fate nie gerafft. So, jetzt ist's raus.  

Mit dem Verständnis der Fates Warning-Werke nach 1997 hat es hingegen nicht gehapert, eher ist das Gegenteil der Fall: sowohl "Disconnected" als auch "FWX" sind keine besonders herausfordernden Alben. Komponist und Gitarrist Jim Matheos hat viel mehr die mit "A Pleasant Shade Of Grey" begonnene Generalüberholung des Bandsounds, also weg vom transparenten, melodischen und nicht zu technischen Progressive Metal zu einem melancholischen, dunklen und ganz besonders hinsichtlich des Riffings sich zaghaft in Alternative Rock-Bereiche der etwas früheren neunziger Jahre vorwagenden Metal-Entwurf auf den beiden Nachfolgern weiter entwickelt. Veränderungen finden nur noch in Nuancen statt, und auch wenn Fates Warning dank dieser 1997 eingeleiteten und doch sehr deutlichen Zäsur ein gutes Stück Einzigartigkeit hinzugewonnen haben, sorgt eben auch die beste Story spätestens bei der zweiten Wiederholung nicht mehr für Begeisterungsstürme. Vor allem Matheos' tiefergelegte und repetitive Gitarrenarbeit, die die ihr innewohnende tonale Beschränkung zum Stilmittel erhebt, ist mittlerweile der größte Stolperstein der Band. Knapp dahinter: es ist erschütternd, wie sehr dieser Band ihr langjähriger Drummer Mark Zonder und dessen federndes, mehrdimensionales Spiel fehlt. Sein Nachfolger Bobby Jarzombek klingt im direkten Vergleich wie ein auf dem Boden zementierter Amboss. Und natürlich stellt das etwas mit Matheos' Kompositionen an: sie werden unbeweglicher und ausdrucksloser. 

Auch "Darkness In A Different Light" führt die Linie der drei Vorgänger fort: die Zeit der stilistischen Experimente ist offenbar endgültig vorbei. Was indes gelungen ist: die Songs sind ein Spürchen offener angelegt und damit weniger klaustrophobisch als auf den beiden Vorgängern. Am stärksten sind Fates Warning mittlerweile dann, wenn sie ihrem Händchen für große melancholische Momente und Melodien freien Lauf lassen und nicht auf Biegen und Brechen versuchen, "Metal" zu sein - das Eröffnungsriff des Openers "One Thousand Fires" ist beispielsweise in seiner bemühten Anbiederung wirklich ärgerlich, dasselbe ließe sich für einige Momente im 14-Minuten-Opus "And Yet It Moves" oder dem zugänglichen "Desire" sagen. Größter Nachteil am Festhalten der breitbeinigen Metal-Verbeugung ist die Tatsache, wie verschenkt der großartige Ray Alder in diesen Momenten ist. Alder ist aufgrund seiner Arbeiten in den letzten 25 Jahren für mich einer der zehn besten Sänger der kompletten Szene, und es gibt auch auf "Darkness In A Different Light" Gesangslinien, die in Verbindung mit den Texten eine intellektuelle Tiefe erreichen, die ich schon sehr lange nicht mehr auf einem Metalalbum gehört habe. Ich bin beinahe geneigt festzustellen, dass ihm, nachdem es plötzlich auch im Heavy Metal en vogue geworden ist, auf gute Sänger mit ausdrucksstarken Stimmen keinen gesteigerten Wert mehr zu legen, in kreativer und emotionaler Hinsicht praktisch niemand mehr das Wasser reichen kann - auf der Bühne sieht das bisweilen wegen seines Tabakkonsums etwas anders aus, und der Mann wird schließlich auch nicht jünger. Dennoch: eine Platte mit seiner Beteiligung sollte immer gehört werden. Heute mehr denn je, und sei es nur, damit man sich daran erinnert, wie wichtig, toll und fantastisch eine großartige Stimme auf einer Heavy Metal Platte klingen kann. Er ist der eigentliche Grund, warum ich hier einerseits überhaupt über Fates Warning schreibe und andererseits trotz all ihrer Unzulänglichkeiten immer wieder diese Platte hören will.  

Höhepunkte auf "Darkness In A Different Light" sind dann auch folgerichtig die eingängigen, gräulich schimmernden Juwelen mit dezenter Mainstreamattacke: die Single "Firefly" steht in der Tradition des kleinen 1991er Überraschungserfolgs "Eye To Eye", ebenfalls hörenswert ist die eindeutige Verbeugung vor Psychotic Waltz "Into The Black" und das unter Beteiligung von von ex-Dream Theater-Keyboarder Kevin Moore komponierte "O Chloroform". Auch der bereits erwähnte Rausschmeißer "And Yet It Moves" kann über weite Strecke überzeugen. 

Es gibt ehrlicherweise nicht allzu viele Platten, die ich auch nach knapp drei Jahren immer noch regelmäßig aus dem Regal ziehe und auflege - die Anzahl derer, die sich dabei dem Heavy Metal verschrieben haben, tendiert gar praktisch gegen Null. "Darkness In A Different Light" macht etwas mit mir und zieht mich trotz aller geäußerter Kritik immer noch an. 

Und ich will außerdem ein rauchendes Kind von Ray Alder. 





Erschienen auf Inside Out, 2013.

17.04.2016

Dune




DISCOVERER - TUNNELS


Eine kleine Ausgrabung aus meinem Archiv an einem lazy Sunday afternoon with German Gemütlichkeit, Fencheltee mit Honig und Duftkerzen (Amaretto-Kirsch-Schweinebraten) und, ganz wichtig, dem über der Krankencouch schwebenden Binge-Watching Geist von Agent Mulder und Agent Scully aus dem Hause Akte X, und ich hätte mindestens einen Extra-Sprühstoß aus dem Nasenschleimhautabschwellungsspray verwettet, dass ich hier, i.S.v. "hier" schon mal über "Tunnels" ein paar warme Worte zur Huldigung haben fallen lassen, aber: "So kann man sich täuschen" (Gerhard Schröder).

Discoverer ist das Projekt von Brandon Knocke aus dem US-amerikanischen Kansas und die namentliche Nähe zum Raumfahrtprogramm der NASA ist angesichts seines Sounds auf "Tunnels" sicher nur ein kleiner Zufall. "Tunnels" ist futuristischer Synthiepop, gleichzeitig eine Reminiszenz an die Vergangenheit als auch an die Zukunft, die wir uns in der Vergangenheit als Zukunft imaginierten. Skelettös, funky und tanzbar, aber mit mehr als einem Bein im Melancholie-Herbst des Uranus watend, zwischen öder Wüstenlandschaft mit Bayern 3-Telekolleg-Schachbrettästhetik und postmoderner Naivität, die mit einem Lächeln den richtigen Weg versucht zu finden. Das besondere Highlight in diesem Zusammenhang heißt "Personal Clone": Do the robot dance on a cold Wednesday morning. And be sure to wear flowers in your hair. 

Die Herzallerliebste, an besagtem Sonntag ebenfalls im Rotzekoma gefangen, und Herr Dreikommaviernull waren sich einig: das ist eine wirklich schöne Platte - auch und gar in erster Linie deshalb, weil das hier irgendwie nach einer Lebensaufgabe klingt, die nun endlich abgehakt werden kann. Es wurde hart gearbeitet. Herzblut. 





Erschienen auf Digitalis, 2012. 

12.04.2016

Eine Kleine Nachtmusik



CHRIS CORNELL - LIVE IN HAMBURG

Und da stand er also vor mir. Keine 6 Meter entfernt, im wollweißen Schlabberstrickpulli, Zottelhaare, Jeans. Und ich war damit für einige Minuten komplett überfordert, während tosender Beifall der Zuschauer über meinen Kopf hinwegdonnerte wie eine haushohe Welle am Strand von Nazaré. 

Chris Cornell. Seit 1989 und dem Cover des Soundgarden Albums "Louder Than Love" irgendwie immer an meiner Seite. Einer aus der Zeit, die mich sowohl musikalisch als auch charakterlich so sehr prägte, wie keine andere. Ich kann vermutlich sagen, dass in den ersten Minuten des Konzerts in der Hamburger Laeiszhalle, mein damaliges Leben an mir vorbeiziehen sah: die Karohemden, den 8-Tage-Bart, die zerrissenen Jeans, die Nirvana-Sammlung - denn wie sehr ich damals Fan war, so jung war ich eben auch, und so waren Konzertbesuche aufgrund fehlender Einflussmöglichkeiten in den elterlichen Entscheidungsprozessen (Erpressung, Bestechung, etc.) Mangelware. Kurz: ich sah von meinen damaligen Wegweisern, Leuchttürmen, Trostspendern und Krafttankern nicht einen einzigen auf der Bühne. Ich hatte zwar ein Ticket für das Konzert von Nirvana am 3.März 1994 in der Offenbacher Stadthalle, dummerweise sollte das Konzert in München am 1.3.1994 aber aus bekannten Gründen der letzte Auftritt der Band werden. Als ich endlich alt genug war, Konzerte alleine besuchen zu können, waren die Überlebenden wie Pearl Jam schon auf dem kreativen Nullpunkt angekommen, oder, wie im Falle Soundgarden, nur auf großen und furchtbaren Festivals zu sehen, während sich der Rest (u.a. Alice In Chains) schon aufgelöst hatte und sich für eine peinliche und unwürdige Reunionscheiße (u.a. Alice In Chains)(sic!) frisch machte.    

Ich war an diesem lauen Frühlingsabend in Hamburg von so vielen Emotionen und Gedanken und Flashbacks einfach völlig überwältigt. 

Und dass Chris Cornell für die Herzallerliebste und mich darüber hinaus eine ganz besondere Bedeutung hat, darüber hatte ich meine Leser schon Ende des vergangenen Jahres aufgeklärt - was für uns beide, wie wir dort mit großen Augen und Herzen in der vierten Reihe saßen und halb ungläubig, halb überglücklich auf die Bühne schauten, nicht zwangsläufig zur Entspannung beitrug.

Um es vorwegzunehmen: es sollte sich auch musikalisch und meinetwegen auch auf jeder anderen Ebene ein beeindruckendes, denkwürdiges Konzert entwickeln. Dabei stehe ich Cornells künstlerischem Output seit seinem Solodebut "Euphoria Mourning" aus dem Jahr 1999 nicht mal in vollem Ausmaß unkritisch gegenüber: sein drei Studioalben andauerndes Intermezzo mit drei Vierteln der Crossoverlegende Rage Against The Machine unter dem Audioslave-Banner, sein Ausflug in R'n'B Gefilde mit dem kolossal bodenlosen, von Timbaland produzierten Album "Scream", die in den letzten 15 Jahren deutlich angeschlagene Stimme und eine immanente Orientierungslosigkeit in seiner künstlerischen Ausrichtung, ließen alles in allem nicht unbedingt auf einen herausragenden Konzertabend schließen. 

Er sollte uns alle Lügen strafen. Die Stimme? Wie eine Eins! Ich bin bei Sängern wirklich ein überkritisches Arschloch und hatte mich angesichts seiner früheren Gesangsleistungen schon mit verbalem Dauerfeuer für diesen Text bewaffnet, aber leckmichamarsch: das war perfekt. Die Songs? Gab es aus allen wichtigen Schaffensperioden: Temple Of The Dog, Soundgarden, Audioslave und von seinen Soloalben. Besonderes Bonbon: "Seasons" vom "Singles"-Soundtrack. Sein Sidekick? Bryan Gibson an Cello, Mandoline und Piano, durchweg nicht nur überirdisch gespielt, sondern bis auf die Ausnahme "Black Hole Sun", das in der Akustikversion immer leicht verstrahlt wirkt, auch kongenial arrangiert. Cornells Laune? Zwischen sonnig und souverän. Der Mann scheint nach jahrelanger Suche endlich in seiner Mitte angekommen zu sein - mit Auswirkungen sowohl auf seine Musik, als auch auf den Menschen dahinter. Was ich davon halte, dass er "ausgerechnet" (Kalle Rummenigge) mit den unglücklicherweise reformierten Soundgarden den breitbeinigen Rockopa gibt, kann sich der erfahrene Leser meines Blogs möglicherweise denken - warum so viele der alten Meister der Verweigerung, der Anti-Rebellion, der Introspektive und der Klischeeverdammung auf der Bühne plötzlich Mitsing- und Klatschspielchen starten, Konfettikanonen zünden und Fangesänge aus den bierseligen Fußballstadien dieser Welt anstimmen, wird mir mindestens in diesem Leben ein großes und ärgerliches Rätsel bleiben - an diesem Abend in Hamburg war davon nichts zu sehen, hören, spüren. Cornell ist redselig, so manche Ansage dauert gar länger als der darauffolgende Song, er ist aber ganze Universen davon entfernt, den Hampelmann zu geben. Das gibt andererseits das Setting auch nicht her: die Laeiszhalle ist ein altehrwürdiges Konzerthaus mit teurer und hoffentlich strapazierfähiger Auslegeware, komplett bestuhlt und mit aufwändigen Stuckarbeiten an Decke und Wänden ausreichend autoritär in der Wirkung. Das Publikum (Vollbartquote bei den Männern lag mit konservativer Schätzung bei ca. 98%, bei den Frauen nicht ganz so hoch) ist gleichfalls nicht mehr das jüngste und hat sich wohl wie Herr und Frau Dreikommadingsbums über den weichen Sitzplatz gefreut. Abschließend ist Cornells Auftritt nicht für die große Rockpose gemacht, denn es sind die leisen Töne, die hier regieren. So entsteht über die gut zwei Stunden Spielzeit eine intime Atmosphäre, ein unsichtbares Band zwischen den Zuschauern im Saal und Chris Cornell auf der Bühne - und ganz gleich, ob eine solche Stimmung für ihn nach abertausenden Shows noch etwas Besonderes ist: er genießt die gemeinsame Zeit mindestens so sehr wie das zum Abschluss erwartbar frenetisch klatschende Publikum. 

Um ein Haar hätte man sich eine Konfettikanone gewünscht.






08.04.2016

It's Only Rock'n'Roll (not really)!


What the fuck is Shibuya-Kei?

Eine schöne Beschäftigung, wenn schon eh alles scheißegal ist: die Verrückten von Everynoise.com haben eine riesige, interaktive Online-Tapete zusammengestellt und darauf nicht nur jedes denkbare und natürlich auch undenkbare Musikgenre gekritzelt, sondern zu allem irrsinnigen Irrsinn auch noch tatsächliche Musikbeispiele hinterlegt - manchmal verbergen sich dahinter gleich mehrere Ebenen und wer zudem auf die kleinen nach rechts gerichteten Pfeile klickt, erhält sogar einen ganzen Koffer mit entsprechenden Bands - ebenfalls inklusive Hörbeispielen - noch obendrauf.

Um mit Gerhard Polt zu sprechen: "Wenn ich eine Zeit übrig habe, geb' ich sie aus!" - und hier kann man sie gar mit beiden Händen aus jedem offenen und geschlossenen Fenster feuern: Wer Schubladendiskussionen entweder total beknackt oder für das allergeilste Ding seit der Erfindung von achtlagigem Klopapier hält, in den nächsten vier Wochen nicht aktiv am sozialen oder generell: Leben teilnehmen muss und mit ein paar Minuten Schlaf pro Monat auskommt, der kann bei der nächsten Runde Trivial Pursuit mit den Liebsten und Teuersten vielleicht damit protzen, Moombathon nicht für einen neuen Turnschuh der Firma Adidas, oder Bemani nicht für einen hippen Beauty-Blogger und Modedesigner aus Rambach an der Inn zu halten.

Dass die hinterlegten Hörbeispiele und/oder Zuordnungen von Bands manchmal etwas krude erscheinen, fällt wahrscheinlich nur bei den Giganerds negativ ins Gewicht, die sofort den erhobenen Zeigefinger rausholen. Vielleicht muss, darf, kann und soll man das ja auch alles gar nicht so eng sehen und stattdessen in erster Linie Spaß am Entdecken haben.

Ich weiß - ist ein krasser Ansatz in diesen Zeiten.

EVERYNOISE.COM


07.04.2016

Atlantis




BIODUB - FAMILIAR WARMTH


Eine Platte, die unter normalen Umständen und mindestens in der Aufstellung für die "Nachzügler 2015" gelandet wäre, unter "strengen Maßstäben" (Schäuble) hätte sie sich aber genauso gut gleich in den Top 20 platzieren können. Aber die Umstände sind eben nur selten normal und strenge Maßstäbe kommen mir per se nicht ins Haus.

Meinen ersten Kontakt mit Patrick Wurster aka Biodub hatte ich im Sommer 2011 mit seinem Debutalbum "Reisegefährte", einem verhältnismäßig straighten Dubtechno-Album, das bei Genrefreunden - und damit auch bei mir - einige Anerkennung erfuhr; die Platte lässt sich auch heute noch regelmäßig in meiner Playlist finden. Vier Jahre später erschien nun also im letzten Sommer das zweite abendfüllende Werk "Familiar Warmth" auf Tiefenrausch und die Weiterentwicklung seines Sounds ist bereits nach wenigen Minuten immanent: Mehr Ebenen, mehr Winkel, mehr Perspektiven. Die Hinzunahme des Reggaesängers Ray Darwin und des Gitarristen Chriz the Wiz öffnen das gesamte Bild des Albums, das stilistisch sowieso über das hinausgeht, was in diesem Genre viel zu oft als status quo anerkannt und protegiert wird. Ich schrieb neulich über Oliver Schories, dass ihm mit seinem aktuellen Werk "Fields Without Fences" ein tatsächliches Album im Sinne einer Story gelungen ist. Ich kann gleiches über "Familiar Warmth" sagen: immer kohärent in der Ausgestaltung des Kontextes zu einem zusammenhängenden Dickicht, dabei absolut konsequent und mutig außer der Reihe.

Biodub sagt über seine Musik, dass sie im besten Fall sowohl im Club als auch im heimischen Wohnzimmer funktionieren soll. Diesen Spagat, an dem so viele Produzenten in der elektronischen Musik scheitern, bekommt "Familiar Warmth" ohne sicht- und hörbare Strapazen auf die Reihe. 




Erschienen auf Tiefenrausch, 2015.