14.05.2019

Alive In New Light





IAMX - ALIVE IN NEW LIGHT



Die Herzallerliebste hatte den veganen Rollbraten zuerst gerochen und quittierte meine Ignoranz gegenüber des aktuellen IAMX-Albums Ende des letzten Jahres mit geharnischtem und obszön lautem Trommelfeuer aus ihrem Musikzimmer, denn "wenn der Alte das nicht hören will, dann lasse ich ihn es einfach mithören - und mit ihm darf auch die Landbevölkerung auf der Hochplateauebene Chiles noch zuhören!" Und so kam es, wie es so oft kommt: mit Lautstärke, Repetition und Liebesentzug zerbröselten meine zunächst vorbehaltlos validen Vorbehalte wie das Ehrgefühl von Julian "8,8cm" Reichelt beim verzweifelten liebevollen Gedanken an Moritz Hürtgen.

Dabei erschienen mir jene Vorbehalte gar nicht so balla-balla wie sie es sonst üblicherweise tun, sondern im Gegentum recht sorgfältig begründet: Chris Corner, Sänger, Produzent, Erfinder, Designer, Hirn und Herz des IAMX Kosmos ist ein getriebener Workaholic, der seine inneren Dämonen jahrelang versuchte mit Drogen zu bekämpfen. Von schweren Depressionen geplagt, auf der Suche nach Erlösung, Frieden und Liebe. Seine Musik erschien mir immer als bipolares Abbild seines Lebens, manisch zuckend zwischen einer bizarr überzeichneten Lust am Hedonismus und der sich anschließend zeigenden tiefen Agonie. Der Thrill des Untergangs. Drama, Baby! Nun findet in meinem Leben als bald 42-jähriger Golf-Fahrer mit Ersatzhundedecke im Kofferraum hingegen ziemlich wenig Drama und Verzweiflung statt, sieht man mal vom emotionalen Totalausfall ab, wenn der Kaffee zu dünn geraten ist oder wenn mal wieder morgens nach dem Aufstehen Wetter ist, denn so ist sie, die deutsche Kartoffel: es ist zu kalt, zu warm, zu nass oder zu trocken - und außerdem, und in erneuter Anlehnung an den unsterblichen Polt: "Ich bin schon früher zusammengebrochen, ich weiß wie's geht." Chris Corner weiß es auch - und auf dem zuletzt gehörten Album "Metanoia" aus dem Jahr 2015 legte er erneut ein ausführliches Zeugnis davon ab, wie das eigene Ich einem auch mit Mitte 40 noch böse an den Kragen gehen kann - aber mir war's dieses Mal schlicht zuviel. Zuviel Pose, zu wenig Echtheit, zu weit entfernt von meinem Erleben, meiner Realität. 

Dabei habe ich ja grundlegend eine Affinität zum Selbstzweifel und -mitleid, ich bin schließlich in den prachtvoll inszenierten Opferrollen des Heavy Metal groß geworden - außerdem war ich mal katholisch und noch schlimmer: Messdiener. Beides drängt die Denkmurmel nicht immer in Richtung einer positiven Selbstwahrnehmung, macht sie aber empfänglich für die Lust an der Apokalypse. "The Alternative" aus dem Jahr 2006 war der erste Berührungspunkt mit Corners zwei Jahre zuvor aus der Taufe gehobenem Projekt, nachdem seine Band Sneaker Pimps auf dem Erfolgszenith verglühte, und entwickelte sich über die Jahre zu einem Klassiker im Casa Dreikommaviernull, nicht zuletzt und -sätzlich gefördert von zwei nicht weniger als legendär zu bezeichnenden Konzerten im Frankfurter Bett. Vor allem der zweite Auftritt in der locker 50°C heißen und komplett ausverkauften Halle im Hochsommer verbleibt bis heute als erotisch aufgeladener, wild durchdrehender Zirkus mit Konfetti, goldigem Glitzer-Glitter, Schweiß und viel nackter Haut in bester Erinnerung. Abende, die man einfach nicht vergisst. Trotzdem räumte ich nach "Metanoia" zunächst alles beiseite, was aus dem Hause IAMX kam. No hard feelings - ich bin eben rausgewachsen. Das kann ich akzeptieren.

Angesichts von "Alive In New Light" scheint es nun drei Jahre später, als müsste zaghaft der Rückwärtsgang eingelegt werden. Corner hat nach Jahren tiefer Depressionen seinen Weg zurück ins Licht gefunden: 

‘Part of being a creative artist is tied to deep self-confidence issues and self-doubt and ego waves. You are navigating that constantly because of what you do. And you do it because you are navigating it constantly. It’s a cycle of feeling great and feeling worthless. That can be a little bit challenging to stabilize the mind. I did work a lot on self-surrender, acceptance and self-love as well as self-compassion. That can be a huge step in relaxing into healing because one of the biggest problems is just coming down and being able to heal. Self-love is a big part of that.’ (Chris Corner)


Und somit wirkt das Album als das Produkt eines Heilungsprozesses, ist lyrisch optimistischer, versöhnlicher und ja: gereinigt. Es ist vor diesem Hintergrund nur konsequent, dieser Platte den vielsagenden Titel "Alive In New Light" zu geben  und die Livekonzerte mit dem Titelsong zu eröffnen: 


There's a power much bigger than hate
Still lost in the urge to annihilate
But I know I will overcome this
You dragged me through the darkest days
By the skin of my teeth you restored my fate
And I raised myself out of the ashes
Now I'm alive in new light
I'm alive in new light




Spätestens nach dem zu Jahresbeginn stattfindenden Konzert im Frankfurter Gibson (signifikant größer als das Bett und trotzdem ausverkauft) lag ich dann leise wimmernd in den Armen der Herzallerliebsten - mit dem gerade frisch vom Merchandisestand erworbenen Album und einem T-Shirt - und alle drei eben erwähnten Komponenten lassen sich übrigens auf dem obigen Bild erkennen. "Alive In New Light" ist, abgesehen von der etwas optimistischeren Ausrichtung, stilistisch immer noch ein lupenreines IAMX Album: sexy, theatralisch, hymnisch; und vielleicht das qualitativ homogenste und hochklassigste IAMX-Album seit dem Klassiker "The Alternative". Und wäre ich erstens nicht so vernagelt gewesen und außerdem zweitens früher auf die Idee gekommen, der Platte eine Chance zu geben, wäre "Alive In New Light" mit (gelbem) Schmackes in die Top Ten gerauscht. 

Blame it on the Flow. Wie immer. 




P.S.: IAMX veranstalten auf der immer noch laufenden "Mile Deep Hollow"-Tournee sogenannte Mental Health Gatherings und spenden die daraus entstandenen Einnahmen Stiftungen und Organisationen, die auf fortschreitende gesellschaftliche Epidemien wie Depressionen, Angstzustände und Suizid aufmerksam machen. 



Erschienen auf Orphic, 2018.

04.05.2019

Sex, Palmen & das Meer




THOMAS DYBDAHL - ALL THESE THINGS


Resteverwertung 2018, Teil 2. Der Styler unter den Singer/Songwritern. Nur ein Jahr nach seinem Album "The Great Plains" stand auch schon "All These Things" vor der Tür - und weil damit so schnell wohl nicht zu rechnen war, schlief ich mal wieder den Schlaf der Gestressten. Nur durch einen puren Zufall bekam ich Wind von dieser Platte, aber da war es erstens schon Dezember 2018 und zweitens DIE_LISTE bereits final ausgeknobelt. Außerdem, und das ist bei "All These Things" durchaus a thing: es war Winter.

Denn Dybdahl hat sich dieses Mal in sunny California für die Aufnahmen niedergelassen, genauer gesagt im Kreativ-Viertel Echo Park in Los Angeles - und mit Verlaub: das hört man. Aus jeder Note dieser fantastisch klingenden Produktion strahlt die über dem Pazifik untergehende Sonne Kaliforniens, hinter jedem Beat haucht eine Brise über die den Sunset Boulevard säumenden Palmen hinweg, jede Silbe von Dybdahl's mehr gehauchter denn gesungener Poesie reißt selbst dem whitest cis-Mann alive den Mankini weg. Musik für den Blick über eine pulsierende Metropole in der Dämmerung. 

Dem Sextett (mitunter dabei so außergewöhnliche Musiker wie Patrick Warren, David Baerwald oder Brian MacLeod) ging es unter Dybdahls Führung um den Spirit, die Fokussierung auf den Song. Tatsächlich erinnerten die Sessions an den berüchtigten Tuesday Night Music Club, einem Zusammenschluss verschiedener Musiker, Songwriter und Produzenten aus den frühen neunziger Jahren, aus dem 1993 das erfolgreiche und gleichnamige Solodebut von Sheryl Crow entstehen sollte. Warren, Baerwald und MacLeod waren bereits damals mit von der Partie, der vierte im Bunde war Larry Klein, der bereits Dybdahls 2014er Werk "What's Left Is Forever" produzierte und auch für "All These Things" an den Reglern saß. Die Band arbeitete an den Arrangements, spielte und übte die dann fertigen Kompositionen und nahm sie sogleich in den Redwood Studios auf. 

Es sind die feinen Nuancen in der Musik, die jene besondere, sehnsuchtsvolle Atmosphäre erzeugen. die den Bildern plötzlich so viel Leben einhauchen: ein nachhallendes Pink Floyd-Gitarrenlick hier, ein funky angejazztes Highlight an den Keyboards da, dazu einer der besten Schlagzeugsounds, den ich jemals hörte. Musik für schweres, getäfeltes Holz, kräftigen Whisky, durchgewühlte Bettlaken und die selbstgedrehte Kippe danach. Mysteriös. Dunkel. Sexy. 






Erschienen auf 1Micadventure/V2, 2018.