27.01.2024

Best of 2023 ° Platz 17: IAMX - Fault Lines¹




IAMX - FAULT LINES¹


"Glückliche Menschen langweilen mich." (Wolf Wondratschek)


Wir haben miteinander gefeiert, sind gemeinsam zusammengebrochen, haben gelacht und geweint, getanzt, geschwitzt, uns angezogen und wieder abgestoßen. Haben die Theatralik bestaunt, das Drama bestanden, sind auf dem Boden des Atlantiks aufgeschlagen und haben die Sonne geküsst. Das Chaos umarmt, die Einsamkeit ausgehalten. Wir waren frei und entfesselt, haben dem Hedonismus ein "How ya doin'?" vor die Füße gerotzt und dem Tabu ein Grab geschaufelt. Haben in den Spiegel geschaut und die Risse in unserem Gesicht gesehen, die sich in die Breite verästelnden Zerwürfnisse nachgezeichnet, die Ketten mit Spucke poliert, die Zeit verflucht, den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren den Mittelfinger entgegengestreckt. Erlebten Agonie und haltlose Hysterie, waren ohne Orientierung und voller Pläne. Überwältigt von der Kälte, überfordert mit der Hitze. In Embryohaltung dem Staub beim Zerfallen zugeschaut und uns so schnell gedreht, dass wir uns selbst überholten. Blitze geschleudert, das Meer geteilt, den Sturm gesät und Zerstörung geerntet. Das Licht zum Explodieren gebracht, die Dunkelheit ausgelöscht. Die Liebe, das Leben, eine einzige Orgie.

"The fanatics are winning and I wanna go home."


 



 



Erschienen auf Unfall Productions, 2023.

21.01.2024

Best of 2023 ° Platz 18: Yagya - Faded Photographs




YAGYA - FADED PHOTOGRAPHS


ChatGPT is fast-tracking the commodification of the human spirit by mechanising the imagination
(Nick Cave)


Ich werde alt. Zugegeben, das ist bedeutend schöner, als nicht alt zu werden. Aber die Veränderungen, die ich im Zuge des Zerfalls, körperlich wie geistig, 's macht eh keinen Unterschied mehr, an mir beobachte, sind nicht immer Anlass für ausgelassene Freude. Im Falle von "Faded Photographs" ist's eine zweischneidige Medaille, quatsch: sind's zwei Seiten desselben Schwerts: vor zehn Jahren hätte ich diesem wachsweichen Kitsch keine zwei Durchläufe gegeben, bevor ich die Schublade mit den unterschätzten Gemüsesorten (Pastinaken!) geöffnet hätte. Reste jenes also eher ungnädigen Florians scheinen indes auch im Jahr 2023 noch immer auf der Spaßbadrutsche im Kleinhirn entlang zu schlittern, denn ich erinnere mich daran, im März des just abgelaufenen Jahres nicht gerade in euphorischer Umnachtung nackig auf ein Nagelbrett gesprungen zu sein, als sich das Album die ersten Male auf dem Plattenteller drehte. "Faded Photographs" wirkte unnatürlich harmonisch, dabei erschütternd undynamisch und folgerichtig: oberflächlich. Schlimmstenfalls, irgendwie...egal?! 

Und man denkt sich: "Hurra! Ich habe noch Spuren von Integrität in mir, dieser Pop-Dreck kann sich ins Gehackte legen. Mit mir nicht, Freunde der Sonne! Das hier ist der letzte Wassergraben vor der ersten Reihe beim Helene Fischer-Konzert! Und ich habe nicht mal zum Sprung angesetzt! Wer sagt's denn?! Dum spiro, spero!"

(Weil es schließlich keine Zwischentöne mehr gibt - es gibt nur noch dafür oder dagegen. Entweder mit Helene ins Bett oder mit GG Allin Schore drücken, dazwischen passt kein bedrucktes Klopapier vom verfickten Springer-Verlag, klar.) 

"...eine sehr ambivalente Person!" (Gerhard Polt)

Werte Leser*innen: wie Sie sehen können, haben sich die Zeiten geändert. Sie lesen diesen ganzen Kladderadatsch im Jahr 2024, und "Faded Photographs" ist locker in den Top 20 des vorangegangenen Scheißjahres gelandet. Und bevor ich gleich damit beginne, diesem Album die Rosenblüten ins Badewasser zu streuen, eine ganz kurze Einlassung zum Beginn dieses Reviews: ich hätt's ohne die "süße Milde" (Manuel Andrack) des Bluthochdrucks, der Angstzustände und des in spätestens fünf Jahren fälligen künstlichen Kniegelenks im Leben nicht erkannt. Man muss so dankbar sein. Fürs Altern, versteht sich.  

Im Prinzip ist "Faded Photographs" der endlich gefundene Nachfolger zu "Details" von Richard Davis, vielleicht abzüglich dessen stärkere Konzentration auf die Kickdrum. Und um Missverständnisse zu vermeiden: that's a fucking good thing! Dieser übermelancholische Vibe, der sich zwischen den in blassrosa getauchten Zuckerwattewolken ausbreitet wie eine nicht letale Überdosis Ketamin im menschlichen Blutkreislauf, und der sich gleichzeitig zwischen stoischer Unterkühlung und substanzieller Überwärmung dehnende Vortrag von Sänger*innen wie Bandreas, Saint Sinner und Benoit Pioulard, haben meine Gegenwehr vollständig gebrochen. "Faded Photographs" klingt wie eine in Superzeitlupe gefilmte Kissenschlacht, von der man nicht weiß, ob die Protagonisten sich danach in brennender Leidenschaft vereinen oder sich traurig und enttäuscht voneinander entzweien werden. In diese Indifferenz platziert Yagya das entrückt klingende Saxofon von Óskar Guðjónsson und die elegischen Streicherarrangements von Pablo Hopenhayn und lässt damit einen Song wie "The Serpent" wie eine außerirdische Coverversion der frühen Dead Can Dance, den Abschlusstrack "My Own Worth" wie eine bizarre Laune der Natur aus den Cardigans und Björk klingen, während im Untergrund der unbeirrbare Dubtechno-Beat bedächtg vor sich hinblubbert. 

Dass die Erwartungen der Zielgruppe mit "Faded Photopgraphs" nicht erfüllt wurden und die Gemeinde aus Technohausen ihre liebe Not mit der Platte hat, dabei die Vorbehalte in ähnlich verzweifelt-hilfloser Weise äußert wie die alten Knatterrochen aus dem Rockmusikzirkus - Titel meiner ungeschriebenen Doktorarbeit: "Anspruchsdenken und Erwartungshaltungen an Kulturschaffende. Eine Frage der Intelligenz?", gibt mir Gelegenheit, nochmal tief durchzuatmen: so alt werde ich hoffentlich nie.


   




Erschienen auf small plastic animals, 2023.

14.01.2024

Best of 2023 ° Platz 19: interna - nach außen konziliant




INTERNA - NACH AUSSEN KONZILIANT

"I'm very fortunate to be surrounded by such stupidity." (Elaine Benes)


Im November 2023 bereiteten sich die drei Mitglieder von Blank When Zero auf den ersten Auftritt seit 2019 vor. Nach einer mehr oder minder erfolgreichen Probe saßen wir wie üblich zum Abkühlen in unserem keinen Nebenraum und sprachen über die voraussichtliche Setlist, über neue Platten und die gesellschaftlichen Verwerfungen in Zeiten des Postkapitalismus, als unser Bassist Marek plötzlich das Telefon zückte und in die Runde fragte, ob wir denn schon mal was von interna gehört hätten. "Da sind Leute von Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen und Sie Kamen Australien dabei. Gerade rausgekommen. Ist geil!". 

Hatte ich nicht. Ich kenne streng genommen nicht mal die La Palomas, und es ist nicht nur als Musiker in einer Hardcorepunkband fast ein bisschen peinlich, das offen zuzugeben. Mir ist der Bandname freilich geläufig, aber den vergisst wohl auch niemand, sobald er denn mal den Weg ins Bewusstsein gefunden hat. Ihre Musik hatte ich aber noch nie gehört, und meine komplizierte Beziehung zu neuer Rockmusik im Allgemeinen und ganz besonders deutschsprachigem Punk im Speziellen, mag wohl (nicht) als halbsteife Entschuldigung durchgehen. interna hatten im Juni ihre erste Single "In der Terrassenwelt" veröffentlicht und für die B-Seite "Im Schwimmbad mit den Boys" ein Video gemacht. Und das schauten wir uns dann also an. Im Proberaum.

Die Kurzversion über das, was dann folgte: "Uff, der Schlagzeuger sieht ja aus wie ich." -"D...der hat sogar ein Blind Guardian-Shirt an!" -"Fuck, wie geil klingt bitte die Gitarre?!" "Der Bass isso tight!" 

Dann schallendes Gelächter bei der Textzeile 

"Bluesfossil vom Nachbarraum will mit uns jammen, wohl kaum"

anschließend Beinahe-Hysterie bei 

"Soloalbum mit meiner Frau, eine Platte rosa, eine blau." 

Zwei Tage später: "nach außen konziliant" ist bestellt. Ich will nicht schon wieder über Gebühr mit meiner des Öfteren so seltsam gespreizt formulierten Abneigung gegen aktuelle Rockmusik kokettieren, aber: das will schon was heißen. Und jetzt steht die Platte auch noch in meinen Top 20. 

Hurra! Irre! Boioioioiiiing!

Das Trio aus Kiel spielt...ich habe ehrlich keinen Plan, was das hier ist. Indiepunk? Postpunk? Progpunk? Postindie? Postprog? Was ich weiß: ihr Zusammenspiel ist traumhaft, die Rhythmen manchmal gar ziemlich tricky, sie finden an den genau richtigen Stellen den genau richtigen Drive, da ist viel Luft zwischen den Instrumenten - und eine Reduziertheit, die mich hier und da entfernt an Antelope erinnert (über deren leider einziges Album "Reflector" ich hier schonmal eine Art Heiligenschein anknipste) und aus der ein unwiderstehlicher Groove entsteht - und natürlich die Texte, die zu gleichen Teilen so schlau wie obskur sind, sodass ich oft nur eine diffuse Ahnung davon habe, was sie denn eigentlich bedeuten könnten. Aber eine diffuse Ahnung ist besser als der Spatz in der Hand, right?! Right!

Zigaretten rauchen
In der Sonne frösteln
Das bisschen Heroin

Es macht einfach großen Spaß, diese Platte zu hören.


   



Erschienen auf Waldinsel Records, 2023


07.01.2024

Best Of 2023 ° Platz 20: Jogging House - Because




JOGGING HOUSE - BECAUSE


“Dass wir nicht mehr können, erliegen, dass wir unrettbar sind, in der Kapitulation leben, das sagten wir nicht, wir fühlten es bloß.” (Roger Willemsen)


Eine Kassette also. Ich habe nicht mal mehr ein funktionierendes Tapedeck. Oder präziser: ich will nicht mal ausprobieren, ob es noch funktionierte, aus Angst, es würde sich über das eingeschobene Tape hermachen und im besten Falle einen Bandsalat, im ungünstigeren Fall ein schlimmes Häcksel-Massaker anrichten (*). Trotzdem habe ich mir "Because" von Jogging House (übrigens wie Herr Dreikommaviernull in Frankfurt zu Hause) auf Kassette gegönnt, und das nach einem nur knapp einminütigen Bandcamp-Testlauf. "Because" schien eines jener Alben zu sein, die schon ab der ersten Sekunde den Raum um mich herum verändern können. Die auf einer bestimmten Frequenz Verbindungen herstellen, Nervenbahnen miteinander verbinden. Deren Puls sich ohne Anstrengung und also ganz natürlich an die Geschwindigkeit der eigenen Realität anpasst. 

Mein Bauchgefühl täuscht sich mittlerweile sehr selten - und wenn es das ist, was ich aus der so innigen Auseinandersetzung mit Musik über die letzten Jahrzehnte gewonnen und also mitgenommen habe, dann war selbst mit einem mitleidigen Blick auf die viel zu vielen Schallplatten in unserem Wohnzimmer vielleicht nicht alles perdu. 

"Because" öffnet unentwegt neue Horizonte, entwickelt Fluchtpunkte aus dem Nichts und zaubert unter den mehrdimensionalen Schichten der nicht mal über Gebühr geglätteten Texturen diesen einen besonderen Moment der Besinnung und des Lichts hervor. Reibung. Erinnerung. Frieden. Ich habe das Album oft in den Abendstunden meiner Arbeitstage gehört, wenn das Getöse des Tages endlich verstummte und ich in die so trübe Tunke aus Exceltabellen und Rechenschieber eintauchen konnte musste. 

Und das Leben wurde ein bisschen leichter.


   


Erschienen auf Seil Records, 2023.


(*): Die Sorgen waren unbegründet.