30.04.2017

2016 ° Platz 1 ° Marillion - FEAR (Fuck Everyone And Run)




Manche Dinge ändern sich offenbar nie. Obwohl ich regelmäßig die heißesten Liebschaften mit neuen Werken des britischen Progrock-Flagschiffs schon hinter mir glaubte, überfallen mich mindestens genauso regelmäßig die Schmetterlinge im Bauch, wenn der Veröffentlichungstermin eines neuen Albums näher rückt; meistens aus dem blanken Nichts heraus und aus heiterem Himmel, getragen lediglich von der Erinnerung an die wahrhaft magischen Momente, die ich über die letzten 30 Jahre mit ihrer Musik verbringen durfte einerseits, und andererseits von der Hoffnung, mich möge - wie in jenem Fall "FEAR" - mindestens so hart, tief und lang treffen wie einst "Afraid Of Sunlight" oder "Marbles".

Marillion sind eine ganz besondere Band für mich, nicht zuletzt, weil ich sie in einer dramatischen und sehr unsicheren Zeit für mich (wieder) entdeckte, als ich nämlich, gerade vom Krebs geheilt, frisch vermählt, arbeitslos und mit Zukunftsängsten so groß wie der fucking Mount Everest, meinen vierwöchigen Kuraufenthalt im tragisch-verschnarchten Bad Rappenau beging und bei einem Spaziergang am zweiten Tag in den Ortskern den Laden des ebenda ansässigen lokalen Fernseh/Video/Elektro-Fachmannes betrat, der offensichtlich gerade dabei war, seine CD-Abteilung zu verschlanken, wenn nicht gleich bis auf die aktuellen Ergüsse der Lustigen Kirmesmasturbanten oder Die Drei Bumsfidelen Zwei komplett aufzulösen und also eine große Auswahl verblüffend günstiger Alben im Angebot hatte. Eines davon war "Anoraknophobia", das 2001er Werk von eben Marillion, und ich rang mir von meinem durch Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und wegen des sechsmonatigen Krankenhausaufenthalts lächerlich zusammengeschrumpelten Budgets die aufgerufenen fünf Euro ab - schließlich hatte Wolfgang Schäfer in seiner Besprechung in der Heavy Metal-Postille "Rock Hard" die Platte mit satten 9.5 Punkten (von 10) bewertet und über den sattgrünen, mit frischem Tau überzogenen Klee des Bad Rappenauers Kurparks gelobt und Schäfers Meinung hatte in meinem Buch zu progressiver Musik durchaus Gewicht. Außerdem fand ich das an die Southpark-Figuren angelehnte Coverartwork superduper. Was soll schon schiefgehen? 

Dabei hätte es ganz schön schiefgehen können. Ich vergötterte bis zu jenem Zeitpunkt eigentlich nur eine Platte der Band: das Debut "Script For A Jester's Tear" aus dem Jahr 1983, mit dem ich dank meines Bruders und seiner gut aufgeräumten Plattensammlung schon als kleiner Knirps Bekanntschaft machte, und das in den folgenden Jahren meiner musikalischen Adoleszenz zu einer meiner Inselplatten heranreifen sollte. Den Sängerwechsel von der Identifikationsfigur Fish zu Steve Hogarth im Jahr 1988 und damit drei Studioalben später, nahm ich zwar mit einem viertel Auge wahr, aber die Verbindung zur Band und ihrer Musik war schon früh, praktisch mit dem zweiten Album "Fugazi", abgerissen. Auch die folgenden Megaseller "Misplaced Childhood" und "Clutching At Straws" haben mich emotional nie gepackt und erreicht. Aus damaliger Sicht erscheint es wenig überraschend, dass auch die Alben mit Steve Hogarth, "Brave" und "Afraid Of Sunlight", nichts mit mir anstellen konnten. Das war alles irgendwie ganz nett und als egales Hintergrundrauschen für ein sommerduseliges Sonntagmorgenfrühstück sicher nicht die allerschlechteste Wahl, aber für mehr waren mein Herz und mein Hirn einfach nicht ausgelegt. "Anoraknophobia" war dann der Ohrenöffner in Bad Rappenau, und es passierte zwischen dem Frühstück und dem Wasser-Aerobic-Kurs unter dem Einfluss von 40 Tropfen Novalgin: auf mitgebrachten und daher portablen zwomarkfuffzich Mini-Lautsprechern und meinem Disc-Man erschien mir das Licht, und ich stammelte praktisch im selben Moment über die Telefonleitung zur Herzallerliebsten in Wiesbaden gleichzeitig Worte der Begeisterung und der Überraschung. Sie müsse das unbedingt hören, wenn ich wieder zu Hause bin, das sei ja sensationell toll, und wie gut der singt! Und wie gut das komponiert ist. Und wie sehr mich das zuerst abholt und dann auch noch mitnimmt. Wie sehr mir bei "When I Meet God" die Tränen kommen und wie sehr ich über das alberne "Seperated Out" lachen muss, wie mir das Jahrhundertbreak in der Mitte von "Quartz" nicht mehr aus dem Kopf geht. Gestält von derlei Kopfverdrehung ging ich das Projekt "Entdecke Marillion" in den nächsten Wochen und Monate wieder an. 

Und da stehen wir heute immer noch, lediglich vierzehn Jahre, fünf Studioalben, vier Livekonzerte und zwei durchgehuldigte und abgerissene (Knorpelschaden!) Knie später. Selbst wenn mich nicht jede Veröffentlichung des Fünfers seitdem komplett durchdrehen ließ, sind es die Erlebnisse mit Meilensteinen wie eben "Anoraknophobia", "Marbles" aus dem Jahr 2004 und "Afraid Of Sunlight" (1995), die so signifikanten Einfluss auf mein Leben und mich als Menschen hatten und die mich immer wieder zu dieser Band führen wie eine Motte zum Licht einer Straßenlaterne. 

Als im letzten Sommer die ersten Informationen zu "FEAR (Fuck Everyone And Run)" durchsickerten, ließ mich vor allem ein Zitat von Keyboarder Mark Kelly aufhorchen:

"Today is the last day of recording for the band. We have set ourselves a deadline of tonight for each of us to submit any last minute additions or changes we would like to see before Mike starts mixing. It’s sounding fabulous already and I don’t think I’ve personally ever been so happy with a Marillion album as I am with this one. In the region of 70 minutes of music, but only 5 songs, it’s an album of big themes and subjects. Lyrically, it’s very serious and dark in places but the music takes you on a journey through highs and lows that rock one minute and are delicate and beautiful the next."

Was man wissen muss, um sich nicht in stupidem "Ha! Eh alles nur Promotion-Geschwätz!" zu verheddern: Kelly ist alles andere als ein Fan der rockigeren Seite Marillions - und ich bin es auch nicht. Ich erinnere mich an ein Interview mit Bassist Pete Trawawas, das ich mit ihm im Foyer des Offenbacher Capitols vor dem abendlichen Konzert im Rahmen der "Somewhere Else"-Tournee führte, und an seine Einlassung, dass Mark die Uptempo-Rocksongs der Kapelle wie "Most Toys", "Hooks In you" oder "Hard As Love" geradewegs hasst. Auch für mich ist jene Seite die Achillesverse der Band, denn sie klingt in solchen Momenten völlig uninspiriert, oberflächlich und nach 08/15-Würschtelrock - und was noch schlimmer ist: sie klingen durchgängig wie die falsche Band am falschen Ort zur falschen Zeit, die obendrein noch die falsche Musik spielt. Sie klingen nicht nach sich selbst. Wenn nun einer wie Kelly über sein Glück und seine Begeisterung über "FEAR" spricht, dann weiß der vermeintliche Kenner: Middle Of The Road-Gerocke wird es nicht zu hören geben, wenn ich bebend vor Spannung das Badewasser einlaufen lassen, um mich "FEAR" hörend in der Herbstbadewanne (Vanille, Patchouli, Schweinebraten, Mohn) kochen zu lassen. No small mercies.

Die ersten Tage mit "FEAR" gestalteten sich indes als überaus schwierig. Ich entschied mich zunächst nach einigen inneren Reichsparteitagen mit dem Kauf des Downloads, um zu prüfen, ob die Vinylversion, nicht zuletzt wegen des angesichts überlanger Songs erwartbar stockenden Albumflusses, überhaupt in Frage kommt - und bekam eine MP3-Version, die sich auf meinem Smartphone damit hervortat, nach jedem Song zunächst mal eine Pause von zwei Sekunden einzuhalten, bevor der nächste Track wiedergegeben wurde. Da sich die Band dazu entschloss, die drei Longtracks "El Dorado", "The Leavers" und "The New Kings" in bis zu sechs Untertiteln aufzuteilen, war der Hörfluss nun auch mit genau jener Version signifikant eingetrübt, mit welcher das Szenario genau hätte nicht passieren sollen. Hinzu kam, dass sich die oben erwähnte Vermutung, "FEAR" würde eher ruhig als rockig ausfallen, tatsächlich bewahrheitete, und was eigentlich ein Grund zum Jubeln war und ist, ergab in der Kombination mit den eben erwähnten Zwangsaussetzern in der Auseinandersetzung ein diffuses, kaum allokierbares Grundrauschen. Ich wusste eigentlich nie, wo die Band und ich jetzt eigentlich gerade waren - nicht nur in welchem Song, sondern auch inhaltlich. "FEAR" verkam zu einem zwar angenehm zu hörenden, aber "höggschd" (Bundesjogi) heterogenen und paradoxerweise gleichzeitig amalgamierten Gemisch aus kurz reingeworfenen und daher im ersten Eindruck strukturlosen Klang- und Wortfetzen. Zu schlechter Letzt bemängelte die Herzallerliebste in jener Zeit auch die vor allem textlich negative und beinahe verzweifelte, gar depressive Ausstrahlung des Albums im Allgemeinen und von Sänger Steve Hogarth im Besonderen. 

Je mehr Zeit wir allerdings mit "FEAR" verbrachten, und aufgrund unseres Urlaubs in der ersten Oktoberwoche 2016 verbrachten wir alleine schon auf der hinwegig sechsstündigen Autofahrt eine Menge Zeit mit dem weiteren Erkunden des Werks, desto mehr lösten sich all die Bedenken und Mängelansprüche auf. Je mehr man verstand, desto mehr verstand man, denn "das ist Physik" (Malmsheimer): was gibt es Bereichernderes und Schöneres als ein Album, in das man sich richtig reinknien muss, das Aufmerksamkeit und Beschäftigung verlangt? Mögen sie doch alle ihren billig hingerotzten "Here today, gone tomorrow"-Quadratscheiß über Spotify hören und hektisch weiter klicken, wischen und tippen, wenn es nicht so offensichtlich stumpf produziert ist, um den Dreck nicht schon nach zwei Nanosekunden mitpfeifen zu können. 

Ich blieb dran, obwohl ich auch weiterhin und selbst nach zwei Wochen immer noch nicht mal sagen konnte, welcher Teil zu welchem Song gehört. Aber ich spürte, dass hier etwas Großes auf mich wartete - und so zog es mich ständig zu dieser Platte. Gar so häufig, dass die Herzallerliebste sich zu einem überraschten "Du hast die schon_wieder aufgelegt?" hinreißen ließ. Irgendwann war jener magische Moment erreicht, was der nicht ganz so helle Zeitgenosse aus Betriebswirtschaftslehrenhausen womöglich als "Turnaround" bezeichnen würde; dieser Moment, in dem die Platte aus ein, zwei Dezibel Abstand heraus betrachtet plötzlich und fast wörtlich strahlt und ich sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit anglotze. Der wichtigste Schritt auf diesem Weg war ganz bestimmt "Living In Fear", einer der beiden vergleichsweise kurzen Songs, den ich mitsamt seines Textes erst eines Abends in der Badewanne liegend komplett erfasste, mir dann aber trotz 50°C heißen Wassers eine extradicke Gänsehaut verpasste:


Our wide eyes
Aren't naive
They're a product of a conscious decision
The welcoming smile is the new Cool
The key left in the outside of the unlocked door
Isn't forgetfulness
It's a challenge to change your heart
There's always a price to pay
Living in f e a r is so very dear
Can you really afford it?

We've decided to risk melting our guns as a show of strength
We've decided to risk melting our guns as a show of strength
As a show of strength

Our wide eyes are not so weak
They're a product of a hard-won wisdom
So we will turn the other cheek
The apple pie cooling on the windowsill
Is such a welcome change from
Living in f e a r
Year after year after year
Can we really afford it?
Can you really afford it?

We have decided to start melting our guns as a show of strength
As a show of strength
We decided to leave the doors unlocked, our face unlocked
As a show of strength

We're not green
We're just pleasant
We're not green
We're just pleasant
We're not green
We've decided to start melting our guns as a show of strength

Our wide eyes aren't naive
They're a product of a kind of exhaustion
Will there come a time when we believe
The only way ahead is to put down our arms
When we finally know
The bitter consequence of not doing so
There's such a price to pay
For living this way
Living this way

We don't invite crime
We don't invite crime

Will you let one lost soul change what we stand for?
I don't think so

What a waste of time
The Great Wall of China
What a waste of time
The Maginot line
The Great Wall of China
Chto za trata vremeni
Berlinskaya stena
What a waste of time
Die Berliner Mauer
What a waste of time
What a waste of time



Überhaupt, die Texte. Nach dem peinlichen Komplettausfall "Gaza" vom Vorgängeralbum "Sounds That Can't Be Made" (und wo das gesagt ist, ist auch "Lucky Man" nicht gerade einen Literaturpreis wert) ist "FEAR" ein notwendiges Statement in merkwürdigen Zeiten. Hogarth sagt dazu:

"All worthwhile human impulses come from love. And all negative and destructive human impulses come from fear. 
This album is called Fuck Everyone and Run or F.E.A.R. 
This title is adopted not in anger or with any intention to shock. It is adopted and sung (in the song "New Kings”) tenderly, in sadness and resignation inspired by an England, and a world, which increasingly functions on an “Every man for himself” philosophy. I won’t bore you with examples, they’re all over the newspapers every day. 
There’s a sense of foreboding that permeates much of this record. I have a feeling that we’re approaching some kind of sea-change in the world – an irreversible political, financial, humanitarian and environmental storm. I hope that I’m wrong. I hope that my FEAR of what “seems” to be approaching is just that, and not FEAR of what “is” actually about to happen."




Ich teile Hs Pessimsmus nicht, aber das scheint mir auch nicht wichtig zu sein. Mich beeindruckt viel mehr die Analyse der gegenwärtigen Situation und der Umgang mit dem Phänomen der Angst, diesem Patient Zero menschlicher Totalidiotie und ärgster Gehirnverdrehung. Das moralische Pathos, in das Hogarth klassischerweise immer wieder verfällt und von dem er sich auch auf "FEAR" nicht komplett freisprechen kann, wenn er etwa in "The New Kings VI - Why Is Nothing Ever True" den Romantik-Märchenonkel gibt, der nur einen Luftholer von dem Hinweis entfernt ist, dass ein Brötchen beim Bäcker vor drölfhundert Jahren auch mal nur 2 Pfennig kostete und nicht wie heute in den Erlebnistheken Deiner Aral-Tankstelle 'ne glatte Mark, ist diskussionswürdig und mit etwas Vorsicht zu genießen - aber in meinen Augen auch nicht mehr als das.


Remember a time when you thought that you mattered, 
Believed in the school song, die for your country - a country that cared for you 
All in it together? 
If it ever was more than a lie or some naive romantic notion 
Well, it's all shattered now 
It's all shattered now 

Why is nothing ever true? 
Why is nothing ever true? 
Why is nothing ever true? 

Well do you remember a time when you thought you belonged to something more than you? 
A country that cared for you 
A national anthem you could sing without feeling used or ashamed 
You poor sods have only yourselves to blame 
On your knees, peasant 
You're living for the New King 
You're living for the New King 
You're living for the New King.


Nach drei Monaten Leben mit "FEAR" (pun intended), die Liste für die besten Alben des 2016er Jahrgangs war beinahe und bis auf die ersten fünf Plätze komplett und in Reihenfolge gebracht, entschied ich mich dazu, "FEAR" auf den ersten Platz zu setzen. Ich hatte das zunächst nicht vorgesehen, weil die neuen Scheiben von Melanie De Biasio, Warmth, Segue und Esperanza Spalding nun wahrlich nicht von schlechten Eltern und mir über die letzten Monate ans Herz gewachsen sind. Andererseits: warum sollte ich es nicht tun? "FEAR" ist völlig fehlerlos, und auch wenn man Steve Hogarths Stimme die 57 Lebensjahre mittlerweile durchaus hier und da anhört, passt sein dunkleres Timbre zur bisweilen ebenso dunklen, jedoch eher melancholischen Musik besser als jemals zuvor. Und damit ist er auch immer noch der vielleicht beste Sänger aller Zeiten für mich. Und Steve Rothery? Holy Shit, was für ein Gitarrist! Was für ein Sound, was für ein Feeling! Wer diesen Typen nicht in einem Atemzug mit den ganz, ganz Großen nennt, hat ihn nie spielen hören (und sehen). 

Hier ein 15 minütiger Zusammenschnitt seiner besten Soli aus der "Out Of Season" DVD. Und wenn Dir nicht spätestens bei den gigantischen Sternstunden von "This Strange Engine" (ab 6:35) und dem anschließenden, das Zeit- und Raum-Kontinuum wegballernde "Neverland" (ab 8:20) nicht sämtliche Sicherungen durchschmurgeln: go fuck yourself!





"FEAR" ist nicht nur das mit Abstand beste Studioalbum der Band seit 12 Jahren, es reiht sich zudem in die großen Alben ihrer Karriere ein und steht für mich gleichberechtigt neben und zwischen "Afraid Of Sunlight" und ihrem 2004er "Marbles" Meilenstein. Dass mich eine Band nach einer so langen, turbulenten und ganz bestimmt nicht einfachen Karriere, in der sie schon mehrfach sowohl kommerziell als auch künstlerisch abgeschrieben wurde, noch derart begeistern und mitreißen kann: dafür gibt es nur eine Entscheidung: "FEAR" ist mein Album des Jahres 2016. 

Und obendrauf gibt's den goldenen Flori als Anerkennung für ihr Lebenswerk. 





Erschienen auf EarMusic, 2016. 



22.04.2017

2016 ° Platz 2 ° Melanie De Biasio - Blackened Cities



"Blackened Cities" hielt sich über Monate hinweg auf dem Platz an der Sonne auf, auf der Nummer 1 nämlich, also auf dem ersten Rang meiner scheckheftgepflegten Top 20-Liste für die beste Musik des Jahres 2016. Der Verdrängungsdruck wurde ihr tatsächlich erst auf den letzten Metern des Dezembers gefährlich, und wenn hier tatsächlich überhaupt noch irgendwer mitliest und nicht etwa schon bei Platz 13 (des Jahres 2012) ausgestiegen/eingeschlafen/verschimmelt ist, dann erhöht das immerhin nochmal die "Spannung" für die "Nummer 1" auf diesem "Blog". Darauf einen kräftigen Schluck aus der Keramik. 

Nun schrieb ich bereits im letzten Juni über das zweite Werk der belgischen Sängerin, nachdem ich es schon vor zwei Jahren für den umwerfenden Vorgänger "No Deal" vegane Schweinehaxen regnen ließ, gerechterweise, wie ich anfügen möchte: Der Text zu "Blackened Cities" ist mir im Rückspiegel möglicherweise etwas schwerverdaulich geraten und mit etwas Mut zum freien Zitat ließe sich dezent provokativ "Kommen sie nächste Woche wieder, dann gibt's auch wieder richtige Plattenkritiken." auf eine alte Ausgabe der Spex (07/2010) kritzeln, aber letzten Endes war es der Ausdruck purer Hilf- und Ratlosigkeit that made me do it: was soll ich über eine Platte schreiben, die mich sprachlos macht? Wie werde ich dieser Musik gerecht? Mit ein paar hingeworfenen Vokabeln des über drei Jahrzehnte angelesenen Schwachsinns aus Musikmagazinen? Oder lieber mit ein bisschen Untergangsromantik im Hipsterformat, so ein bisschen und zaghaft gesellschafts- und konsumkritisch? Für was ich mich entschied, ist nun also immer noch nachzulesen, solange deine Johanneskrautölkapseln das innere Ungleichgewicht, beziehungsweise die neuen Papiertaschen vom Rewe tragen können.

"Blackened Cities" ist eine Sensation, ein aus einer Jamsession im herbstlichen Brüssel entstandener Mammutsong von über 24 Minuten Länge, der hinsichtlich des Arrangements, des Timings und der Atmosphäre zum Besten zählt, was ich jemals gehört habe. Mächtig in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit, fragil und intim in seinen klanggewordenen Beobachtungen, der Ansprache, der Stimmung.

Große Worte, jedoch allesamt berechtigt: "Blackened Cities" ist mit nichts zu vergleichen. "Blackened Cities" ist mutig. "Blackened Cities" ist inspirierend. 

Vom Licht zart geküsst. Von der Dunkelheit entführt.




Erschienen auf Pias, 2016.

17.04.2017

2016 ° Platz 3 ° Warmth - Essay



Das ist der "Binge-Listening"-Gewinner des vergangenen Jahres. Und das will was heißen, habe ich doch schon ausführlich und also beinahe redundant davon berichtet, wie ausgiebig und pausenlos die letztjährigen Werke von Purl und Halftribe im CD-Wechsler angesteuert wurden. "Essay" hat sie dennoch alle in die Schranken verwiesen. Die Herzallerliebste betont an dieser Stelle die stark ausgeprägte Qualität samt Neigung des Albums, den Zuhörer sanft und schwebend ins Reich der Träume zu begleiten, immerhin sanfter und schwebender als alles andere aus dem Jahr 2016. Sagt sie. Und sie hat, wie praktisch immer: recht.

"Essay" ist, bricht man es auf den eigentlichen Ton herunter, ein Fluss in totaler Ruhe und Kontrolle. Vom Grundrezept der im Hintergrund aufgezogenen Weitläufigkeit mit opulenten, tiefgehenden Soundscapes und hellblau darüber getupften Klangseifenblasen, die majestätisch durch die Szenerie segeln, weicht das Debut des spanischen Produzenten Agustin Mena nur selten ab. Im Ergebnis funkelt "Essay" fast gläsern, wie grob aufs Papier gebrachte Wasserfarbenkacheln, die am Rand nicht scharf begrenzt sind, sondern in Zeitlupe ins Außen strömen. Einnehmend, ausbreitend, übergreifend. 

Im Grunde ist das in der Machart nicht so irre weit von den Epen eines Brock van Weys entfernt, aber, und das ist womöglich das Geheimnis dieser Platte, Warmth lässt die Dramatik, die emotionalen Abstürze, das Zitten und Beben vor der Tür. "Essay" wirkt bei aller Tiefe und klanglicher Komplexität nüchtern, in seiner vornehmen und stolzen Elegantia fast schon stoisch. Wie ein Leuchtturm auf offener See, der das wachende und vor allem ruhende Auge im Zeichen der Stürme und der Unordnung ist. Unbeugsam und unkompromittierbar, dafür aber auch ein Retter und Tröster.

Musik, die die Welt gesehen und erlebt hat. Öffnet Geist und Herz. 

Hier. Für Dich. Und nur für Dich.




Erschienen auf Archives, 2016.


08.04.2017

2016 ° Platz 4 ° Esperanza Spalding - Emily's D + Evolution




Obwohl ich die Karriere der US-amerikanischen Bassistin Esperanza Spalding seit dem Album "Esperanza" aus dem Jahr 2008 verfolge und mich ihr scheinbar grenzenloses Talent in bisweilen strenges bis sehr ungläubiges Staunen versetzte - wer es schon nicht mit einer ihrer Studioaufnahmen versuchen will, soll sich bitt'schön recht dringend einer Livebehandlung unterziehen - hat mich bislang noch keines ihrer Alben auf die volle Distanz überzeugen können. Die gerade mal 32-jährige Musikerin war und ist der Shooting Star der Jazzszene, wurde mit Grammys überhäuft und spielte bereits mehrfach für den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama im Rahmen verschiedener Festivitäten des Weißen Hauses - dass Spalding damit knietief im Jazz-Establishment steht, kann dem weniger Wohlgesonnenen einen gewissen Sicherheitsabstand einnehmen lassen. Tatsächlich waren die bisherigen Alben, darunter die beiden kommerziell erfolgreichsten Werke "Chamber Music Society" und "Radio Music Society" wie gemacht für den Mainstreamigen US-Jazz: etwas bieder, glatt und gleichförmig. Freilich herausragend gespielt und gesungen, ebenso fraglos mit einigen umwerfenden Songs ausgestattet (Tipp: "Black Gold"), aber mir fehlte immer das gewisse Etwas über die gesamte Spieldauer. 

"Emily's D + Evolution" ist nun eine deutliche Zäsur ihres Schaffens und es ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich, dass meine Jahresbestenliste bis zu Spaldings fünftem Staudioalbum warten musste, um im Sturm genommen zu werden. Spalding hat sich bewusst neu erfunden und möglicherweise im Rahmen dieses Prozesses den Abnabelungsprozess vom Mainstream eingeleitet - es wäre ihr angesichts der Frische und Klasse dieses Werks wirklich zu wünschen. Esperanza suchte nach neuen Wegen, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen Konzepten, zog in ihre Heimatstadt Portland um und sich für volle zwei Jahre aus dem Hamsterrad Musikbusiness zurück, um die kreativen Batterien nicht nur aufzuladen, sondern gleich das ganze Akkupack auszutauschen. Spalding agiert auf "Emily's D + Evolution" als die Stimme ihres Alter Egos Emily, die den Hörer dazu bringen soll, die Regeln des Systems in Frage zu stellen und für Frieden und Stille zu kämpfen, um die Verbindung zum eigenen spirituellen Zentrum wieder herstellen zu können. 

"Emily "is a spirit, or a being, or an aspect who I met, or became aware of. I recognize that my job … is to be her arms and ears and voice and body." 

Auch wenn der Stilwechsel bedeuten konnte, sich aus der eingerichteten Komfortzone mit all den schönen Grammynominierungen zu verabschieden, ging Spalding den Weg erstaunlich konsequent. Unterstützt wurde die Produktion vom langjährigen David Bowie-Intimus und -Produzenten Tony Visconti, dessen Einfluss man hören kann: "Emily's D + Evolution" ist künstlerisch, schräg, intellektuell, offen und damit ziemlich viele Universen von dem entfernt, was sich im Mainstream derzeit tummelt: nicht nur hat Spalding offenbar eine Büchse mit ein paar psychedelischen Muntermachern geöffnet, sondern auch den ihr so oder so lieb gewonnenen Fusion-Sound mit einigen verspulten, bisweilen überraschend harten Gitarrenriffs sehr promiment in den Sound eingebaut. Als hätten Jimmy Hendrix, Frank Zappa, Prince und Joni Mitchell zu einer großen Jamsession im Jenseits eingeladen. Ich persönlich nehme bisweilen noch einen dezenten Einfluss der Rockmusik von Beginn der neunziger Jahre wahr, und sei es nur in der visionären Ausrichtung, der Kühnheit wirklich etwas Neues zu wagen. Ich kann es vermutlich nicht über den eben genannten Rahmen hinaus erklären, aber mir kommen immer wieder die frühen Janes Addiction in den Sinn, wenn es darum geht, die Stimmung dieser Produktion zu beschreiben. Dass mir aber jetzt bloß keiner auf die Idee kommt, "Ritual De Lo Habitual" musikalisch mit Esperanza Spalding zu vergleichen. Wir sind ja nicht bescheuert. 

Und weil also kreativer Mut in diesen Zeiten, in denen er zwar nicht ausgestorben, sich dafür aber so rar gemacht hat, dass die Menschen nichts mehr mit ihm anzufangen wissen, und der in der Folge auch gerne mal sanktioniert wird, beispielsweise mit schlechten Verkaufszahlen, hat sich "Emily's D + Evolution" nach dem Erfolg des Vorgängers und dessen zehnten Platz in den US-amerikanischen Alben-Charts, beziehungsweise gar dem ersten Platz in den US-Jazz-Charts, nach einem enttäuschenden 88.Platz sehr schnell wieder von der Billboard-Bühne verabschiedet. Um das auch nur lose einzuordnen: das entspricht etwa 2500 verkaufter Platten in der ersten Woche nach Veröffentlichung. Es werden seitdem nicht gerade Millionen hinzugekommen sein. Oder auch nur Tausende. 

Die Kritik und die Sossenheimer Blogbanane indes: jubeln.  




Erschienen auf Concord Records, 2016.


02.04.2017

2016 ° Platz 5 ° Segue - Over The Mountains




Eine vertonte Wanderung durch tiefsten Urwald. Dunst über dem Boden. Feuchtigkeit, Wärme. Es ist schwül. Sonnenlicht schaukelt sich durch Blätter und Äste. Offene Augen, offener Geist, offenes Herz. Manchmal gibt es kein euphorischeres Gefühl, als ganz unmittelbar Schönheit zu erkennen - verbunden mit der Demut, Zeuge davon sein zu dürfen.

Auch wenn in meinem Wohnzimmer keine Jahrhundertbäume durchs Hausdach wachsen, so bleiben als Bild und Gefühl an diesen letzten, vergangenen Sommer die warmen Nächte bei weit geöffnetem Fenster und "Over The Mountains" in Endlosschleife. Ästhetik und Eleganz sind keine Fremdworte für den Kanadier Jordan Sauer, und wo ich schon bei seinem letztes Werk für das kanadische Silent Season Label "Pacifica" (2013) auf die Knie sank, muss ich es hier schon wieder tun. Dabei ist im Detail auf "Over The Mountains" einiges anders und man sieht es mir bitte nach, dass ich zunächst die Genreschubladen öffnen muss: Sauers zunächst etwas obskur anmutende, eigentlich simple und hypnotische Melodien, sein damit verbundenes raffiniertes Spiel mit Harmonien, seine Rhythmik und nicht zuletzt das Klangdesign seiner Sounds haben mit Dub Techno nicht mehr viel zu tun. Sie sollen mehr als alles andere Bilder erzeugen. Vielleicht ein Gefühl von Sehnsucht? Ganz bestimmt viel Licht - und es scheint, als sei alles auf "Over The Mountains" sorgfältig genau darauf ausgerichtet. 

Ich schrub es vor wenigen Wochen schon mal bei Twitter: Hier ist einer, der sich spätestens mit diesem Album ein paar Jährchen vor der Konkurrenz aufhält. So wie es alle großen vor ihm taten. Wenn alles noch mit rechten Dingen zugeht - und wer würde angesichts des abgelaufenen Jahres nicht daran zweifeln - müsste "Over The Mountains" eigentlich bald in einem Atemzug mit "Music Has The Right To Children", "Amber" und "Substrata" genannt werden.

Ein umwerfendes, naturverbundenes Werk voller Schönheit und Introspektion. 




Erschienen auf Silent Season, 2016.