26.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 13: Wardown - Wardown II




WARDOWN - WARDOWN II

Ab und an muss ich mich ein wenig hüten, nicht gleich ganze Spermatsunamis über so manche Platte schwappen zu lassen - und was sagt es bitte über mich aus, zu glauben, das sei eine gute, angemessene Formulierung, hm? Frag' ich Sie! Zwar habe ich keinerlei Interesse am professionellen und damit emotionslosen "Loggerpeder" (Matthäus) -Schongang, und es so deutlich auszusprechen ist angesichts der letzten...*checks notes*..., uff: 16 Jahre auf diesem Blog, als trage man einen Satz Lobotomiebesteck in die AFD-Parteizentrale, aber der erste und vielleicht einzige Grundsatz, den ich im Jahr 2007 wie Melchior auf den Türrahmen des virtuellen Eingangs zu meinen 3,40qm kritzelte, lautet immer noch, immer nur über das zu schreiben, was mich (unsittlich, im besten Sinne) berührt, inspiriert, bereichert und eskalieren lässt. Und dann gibt's eben Jubelarien in fast jedem Posting. Die folgende Ausgabe einer solchen beginnt mit der Feststellung, eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre "unter strengen Maßstäben" (Dr. Wolfgang "Briefumschlag" Schäuble) für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen. 

Achtung, jetzt:

Eine höhere Platzierung in meiner Jahresbestenliste wäre für das zweite Album von Wardown durchaus zu rechtfertigen gewesen ("unter strengen Maßstäben", Dr.Wollo "Opfer" Schäuble). Diesen Satz bitte gleich wieder vergessen, denn er wird für die nächsten Minuten das letzte professionelle Musikredaktionsgequalle gewesen sein, das die Netzhaut meiner allerschönsten Leser:innen bestrahlt. 

Vielleicht wird es erst in ein paar Jahren ins kollektive Langzeitgedächtnis der Elektrofummler hineingelasert, wie wichtig und innovativ die Arbeiten von Pete Rogers zu Beginn der zwanziger Jahre waren. Sein Debut "Wardown" erzählte in einer Zurückführung an den Ort seiner Kindheit von Sehnsucht und Nostalgie, die er mit all jener Ambivalenz herausarbeitete, die aus dem Gefühl warmer Intimität und kühler Distanz entstehen muss - und entwarf so mit einigen Zaubergriffen ein Werk, das das eigene Sentimentalitätszentrum in eine universelle Schwingung versetzte. Mit dem Nachfolger "Wardown II" ist ihm im Grunde ähnliches gelungen, nur kommt Rogers dieses Mal aus der Zukunft. 

"Wardown II" reist zurück in eine Zeit, die heute als die optimistischste in Bezug auf unsere Zukunft gesehen wird. Die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren randvoll mit der Fazination einer besseren Zukunft, einem besseren Leben für alle. Fantastische Ideen, Utopien, Träume kulminierten in erstaunlich konkret gefasste Vorstellungen und sogar Zeitpläne über den technischen Fortschritt. Visionen von kompletter und in jeden Lebensbereich einziehender Automatisierung, der Einsatz von Robotern und fliegenden Autos waren das eine. Das andere, dass die Lust an der eigenen Berauschtheit angesichts eines solchen herbeigewünschten oder -halluzinierten Fortschritts, sowohl die bereits damals bekannten Probleme als auch jene der Zukunft - und deren Verstärkung - so vollständig ausblenden konnte. 

Rogers hat den naiven Optimismus aus jener Zeit zum zentralen Element des Albums gemacht, und er gibt seinen Songs jeden Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Rein stilistisch hat sich dabei im Vergleich zum Debut nicht irrsinnig viel getan, die grob formulierte und extrasanft umgesetzte Mischung aus Ambient-Tiefe und Drum'n'Bass und Jungle-Geflacker hat auch auf "Wardown II" nichts von seinem Reiz eingebüßt und wird mit Spoken Word-Passagen aus damaligen Werbe- und Wissenschaftssendungen zusätzlich für das angereichert, was die größte Kompetenz des Albums ist: sein Storytelling. Wie aus jeder Note und jeder Persepktive sowohl Hoffnung und Erwartung wie auch Wehmut und Nostalgie entstehen. Wie sich dabei jeder Erzählstrang wie eine Doppelhelix um die innersten Motive herumwickelt. Wie seine Sounds Farben und Designs entstehen lassen, ganze Gebilde und Architekturen, die wir im kulturellen Bewusstsein als "DIE ZUKUNFT" abgespeichert zu haben scheinen. 

"Wardown II" schaut zurück in die Zukunft. Voller Sehnsucht. Voller Traurigkeit. Mit besinnungsloser Hoffnung. 


Vinyl: Nicht nur tadellos und ohne einen einigen Kratzer gepresst, sondern bereits wie beim Debut mit bestechender Dynamik und Tiefe. Ein durch und durch begeisternder Klang. Bestens mit dem Thema des Albums harmonierendes Artwork, dazu vier Drucke mit Zitaten aus dem Albumkontext. Die Platten stecken leider in dünnen, ungefütterten Papierhüllen. (++++)

 


Erschienen auf Blu Mar Ten, 2022.
 

20.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 14: Tocotronic - Nie Wieder Krieg




TOCOTRONIC - NIE WIEDER KRIEG


Die passenden Worte über Tocotronic zu finden gehört mittlerweile zu den schwierigeren Aufgaben des Lebens, egal, ob das auf diesem Blog passiert oder in der oft so furchtbaren "Realität", so mit echt erbrochenen gesprochenen Worten. Maximale Ambivalenz auf der einen, und tiefste, aufrichtigste Zuneigung auf der anderen Seite sind nicht so irre leicht zu vermitteln. Und da geht's nämlich schon los, denn Zuneigung ist das eigentlich nicht zwischen mir und dieser Band. Es ist ja alles viel ernster.

Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, um eine Art Nähe zwischen Tocotronic und mir zuzulassen. Ihr Album "Kapitulation" aus dem Jahr 2007 umkreiste ich über Tage und Wochen, bis ich mich hin- und ergeben musste. Bis dahin war es eine Undenkbarkeit, eine ihrer Platten zu hören, ohne einen Tobsuchtanfall zu bekommen. Und, Riesenüberraschung: da war die Sache mit den richtigen Worten total einfach; Nullen und Einsen. Und Tocotronic waren zu jener Zeit ganz sicher immer die Nullen. Heute weiß ich: ich hatte sie nicht verstanden. Und, das sei zu meiner verzweifelt herausgeplärrten Entschuldigung noch schnell gesagt, aus der Ferne ist das auch beinahe unmöglich. Wer lediglich aus den ignoranten 20000 Fuß auf ihre Musik und ihren Duktus schaut, wird nur schwer die Risse und Brüche finden, die eine Schwingung auslösen können, die widerhallen, den eigenen bewohnten Raum befallen und die eigene belebte Zeit ausfüllen. Selbst als ich wegen "Kapitulation" förmlich dazu gezwungen wurde, tiefer zu gehen, hatte ich im Grunde nur eine ungefähre Ahnung davon, was und wie die das alles meinen. Eigentlich, und es ist fast ein bisschen peinlich, dass es SO FUCKING LANGE dauerte, habe ich das erst mit dem letzten Album "Die Unendlichkeit" geschnallt. Das sind Verweigerer. Totale Verweigerer. 

Ich spüre Liebe. 

Sänger Dirk von Lowtzow hat ihren Kreuzzug gegen den Optimierungswahn in einem Interview mit der taz wie folgt erklärt:

„Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.“


Tocotronic machen Musik gegen die Kultur der Highperformer. Oder insgesamt: der Performer. Vor ein paar Jahren sangen sie "Im Zweifel für den Zweifel":

Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für Verzärtelung
Und für meinen Knacks
Für die äußerste Zerbrechlichkeit
Für einen Willen wie aus Wachs
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären

Und in "Luft" lautet der erste Vers:

Die Luft ist so nutzlos um mich herum
So schön, vergeht jetzt ein Millennium
Ja, ich habe heute nichts gemacht
Ja, meine Arbeit ist vollbracht
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur

Tocotronic machen Musik für mich. Mit all den Rissen und Brüchen. Den Zweifeln, der inneren Zerrissenheit. Der Ausweglosigkeit. Der Ohnmacht. Musik über Rückzug. Über Aufgabe. Kapitulation.

Man sagt das ja oft so leicht dahin, wenn man sagt "Das ist genau meine Welt!", vielleicht noch ein bisschen mit...hUmOr und Zwinkersmiley und haha und hihi. Hier und jetzt gibt's aber mal ausnahmsweise keinen Humor. Und leicht ist es auch nicht, nichts ist leicht, niemals. Mir fällt es manchmal nicht mal leicht, aufs Klo zu gehen, also bitte! Achtung, jetzt kommt's: Das ist genau meine Welt. 

"Nie Wieder Krieg" führt diese Linie fort, als Album und Song. Sie singen über die Trostlosigkeit des Lebens in Gestalt einer Tiefkühlpizza, über diffus wahrgenommene Freiheitsmomente im Flug mit den Vögeln durch das nächtliche Berlin. Der Krieg mit sich selbst. Das dauernde Ankämpfen. Sehnsüchtige Selbstmordgedanken, die in einem Kinderlied verwoben sind. Jedes Wort verschlüsselt und mit doppeltem Boden eingepasst. In dem ehrfürchtigen "Ich Tauche Auf" mit Anja Plaschg (Soap & Skin), der ersten Kooperation der Band in ihrer über dreißig Jahre andauernden Karriere, bleibt am Ende ein diffuses Bauchgefühl aus dreizehn labbrigen Ideen und siebenunddreißig Fragezeichen übrig -  um was geht es denn hier? Eine verbotene Liebe? Eine vergessene Liebe? Gar keine Liebe? Heringssalat aus der Dose? Dirk von Lowtzow meint, er wolle uns nicht mit "Gefühlsquark" belästigen, und wenn er's schon nicht tut, dann muss ich jetzt wohl ran: als sowohl Single als auch Video an einem herbstlichen Morgen im Oktober des Jahres 2021 erstmals auf Youtube auftaucht (sic!), schmeckte der Morgenkaffee plötzlich deutlich salziger als sonst. 

Musikalisch bewegt sich die Band weitgehend im Raum ihrer letzten Arbeiten, und das beinhaltet ausdrücklich auch jene Ambivalenz, die sich stets in ihrem Songwriting finden lässt. Vom zärtlichen Feedbackgefiepe im typischen Uptempo-Kopfnicker "Komm Mit In Meine Freie Welt", oder der hübsch aufstampfenden Single "Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus" über, Pardon - aber ich kann nicht anders: vertonter Trucker-Romantik in "Crash" und einem swingendem "Ilona-Christen-moderiert-eine-Benefiz-Gala-im-ZDF"-Vibe im abschließenden "Liebe", bis zu klassisch-elegischem wie "Nachtflug" und komplett reduzierten Balladen ("Ich Tauche Auf"), gibt es die volle Bandbreite Tocotronics. Und das schließt kurioserweise mit ein, dass es eigentlich immer noch nicht so richtig klar ist, was das hier eigentlich alles soll, so insgesamt. Dilettantisch ist es nicht, ganz im Gegenteil - ihre Produktionen sind fast schon volkstümlich anschmiegsam. Seriös und aufgeräumt ist es aber auch nicht, da grätscht die kindliche Begeisterung und Albernheit die Standbeine weg. 

Sind's Schlager für Depressive? Für Melancholiker? Für Verweigerer? Protestierer?

Jeder Mensch kennt die Antwort. 


Vinyl: Von vorne bis hinten perfekt gepresste, dicke schwarze Scheiben auf 45rpm. Tolles, glossy Gatefold-Cover. Wie es schon bei "Die Unendlichkeit" der Fall war, ist es aus klanglicher und haptischer Sicht ein echtes Erlebnis, "Nie Wieder Krieg" auf Vinyl zu hören. (+++++)



Erschienen auf Vertigo, 2022.

12.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 15: Marillion - An Hour Before It's Dark




MARILLION - AN HOUR BEFORE IT'S DARK


An einer anderen Stelle in diesem Internet schrub ich zur Veröffentlichung von "An Hour Before It's Dark" im März 2022:

"An album that feels like four warm blankets, 12 hot-water bottles, 38 umbrella heaters, 97 gallons of hot chocolate and 239 baking trays of fresh and warm apple pie all at once."

und zugegebenermaßen schrub ich im gleichen Atemzug, es schon im März mit der Platte des Jahres zu tun zu haben - und jetzt sind wir auf Platz 15. "Da sind wir jetzt ganz schön angeschissen, hm?!" (Hagen Rether, Zitat ähnlich)

Wo ich mich im Kontext von "Uff, Rockmusik!" normalerweise vollkotzen müsste, so warm, weich, flauschig und reibungslos sich das Flagschiff britischen Progressive Rocks durch die knapp 55 Minuten neuer Musik mäandert, so beeindruckt bin ich immer wieder aufs Neue von dieser Band - und ironischerweise nicht zuletzt aus den gleichen Gründen. In den außergewöhnlichen Momenten ihrer Karriere kann ihnen, so verraten es mir meine Aufzeichnungen auch noch im Jahr 2023, immer noch nichts und niemand das Wasser reichen. Solche Momente sind auf ihrem 18.Studioalbum im direkten Vergleich mit dem Vorgänger "FEAR" ein Spürchen dünner gesät, denn auch für diese Götter ist irgendwann mal sechste Stunde. Dennoch zählt "An Hour Before It's Dark" zu ihren besten Alben, an manchen Tagen sogar zu den besten fünf. 

Dabei ist das Grundgerüst mit "FEAR" durchaus vergleichbar. Das sehr wahrscheinlich kommerziell erfolgreichste Werk seit ihren goldenen Jahren in den 1980ern ist der konzeptionelle Fixpunkt: drei in mehrere Abschnitte aufgeteilte Longtracks, ein eklatantes Zugeständnis an Shitify und ein volleres Bandkonto (und zumindest letzteres sei ihnen gegönnt, just for the record), zwei leichter zu verdauende und also kürzere Standards - und weil vielleicht noch das ein oder andere Schippchen Erfolg draufgepackt werden sollte, mit "Murder Machines" eine ungewöhnlich offenherzig auf den Mainstream zugeschnittene Singleauskopplung, deren von trivialer Metaphorik durchzogener Text vor allem bei der Herzallerliebsten einen lange ausgehaltenen Seufzer der Misbilligung auslöst. Aber auch darüber hinaus scheint mir "An Hour Before It's Dark" von jedem überflüssigen Ballast befreit und mit unkomplizierter Eingängigkeit beschenkt worden zu sein. Die Band erlaubt sich selbst in den drei Longtracks keine einzige Sekunde Leerlauf, sondern vertieft ihre Themen mit rigoroser Hochverdichtung. Die 55 Minuten vergehen wie im Flug - und während das eine große Qualität dieser Platte ist, bleibt folgerichtig jene Komplexität auf der Strecke, die für gewöhnlich für die ungebrochene Lust an der Auseinandersetzung mit ihrer Musik verantwortlich ist. "An Hour Before It's Dark" ist vergleichsweise schnell entschlüsselt. 

Auch textlich gibt es wenig Raum für Interpretation und angesichts der drei großen Themen dieses Albums mag man beinahe ein "glücklicherweise" in dem Satz verbauen: der Klimawandel, unser außer Kontrolle geratenes Konsumverhalten und natürlich das Virus, das seit dem Frühjahr 2020 die Welt verändert hat, sind nicht nur Themen von schneidender Relevanz, sie sind inhaltlich auch miteinander verbunden, haben Abhängigkeiten, gemeinsame Wahrheiten und Ursachen. Sie bilden den roten Faden, der sich mit Ausnahme des Tributs an Leonard Cohen in "The Crow & The Nightingale" (am Wegesrand: STEVE FUCKING ROTHERY!) durch jeden Song zieht und sich im abschließenden "Care" möglicherweise zu einer Zusammenführung der einzelnen Erzählstränge bündelt. Sänger Steve Hogarth sagt über "Care":

"Care is really a reflection on our mortality. No one knows how much time they’ve got left. None of us do. The middle section of the song (ii An Hour Before it’s Dark, and iii. Every Cell) represents someone reconciling themselves to dying, treasuring his sacred memories and acknowledging and being grateful to those who have loved him and those he loves. The third section represents the journey out of life but is also a thank you to the healthcare professionals who dedicate their lives and sometimes give their lives in the cause of caring for others. The angels in this world are not rendered in bronze or stone. They are working while we’re all sleeping. They’re caring."

Das Gekrähe aus Boomerhausen, man möge doch bitte von derlei Ernsthaftigkeiten verschont bleiben, wenn man sich mal unbeschwert von Musik berieseln lassen möchte, ist natürlich die perfekte Rechtfertigung dafür, sich mit solchen Realitäten auch und ganz besonders in der Kultur auseinanderzusetzen. Offenbar haben vor allem die früheren Generationen (inklusive meiner eigenen) den Schuss noch nicht so ganz deutlich gehört, und die dort ausgelösten Reflexe, von all dem Übel doch bitte unbehelligt bleiben zu wollen, wenn der schwere Rote im Glas und das schwere Weiße im Ohrensessel herumgeleetiert, sind nur ein weiterer Ausdruck grotesker Hilflosigkeit und Ignoranz.  

Ich muss an dieser Stelle zugeben, kein zweites oder in der Wirkung neues "FEAR" erwartet zu haben. Die Band schreibt in meiner Realität ein Mal pro Jahrzehnt einen unantastbaren Meilenstein: das Debut "Script For A Jester's Tear" in den achtziger Jahren, "Afraid Of Sunlight" in den Neunzigern, "Marbles" in den Nullern und eben "FEAR" in der vergangenen Dekade - und ich rechnete wirklich nicht damit, dass sie bereits mit dessen Nachfolger diese Serie fortsetzen werden. Aber die Zwanziger werden ja voraussichtlich noch ein paar Jährchen andauern, und ich habe keinerlei Zweifel an der nach wie vor ungebrochenen kreativen Kraft der besten Band der Welt. There, I said it! 

Bis dahin ist "An Hour Before It's Dark" ein erstklassiges und hochkonzentriert inszeniertes (Progressive) Rock-Album, das sich in etwa im selben Qualitäts-Stockwerk mit "Anoraknophobia" aufhält - und wer sich noch daran erinnert, wie sehr ich die Platte aus dem Jahr 2001 schätze, wird mein Urteil ziemlich akkurat einordnen können. 


Vinyl: Ihre Standardpressungen sind fast nie komplett frei von Problemen, und so ist es auch mit meiner schwarzen Vinylversion, immerhin von Optimal. Nichts wirklich Schwerwiegendes, aber eben auch nicht frei von Knacksern und kleineren Störgeräuschen. In meiner Welt reicht das nicht aus, um vor einer Anschaffung Abstand zu nehmen. Bedruckte und ungefütterte Innenhüllen, Gatefold-Cover und ein fabelhaftes Artwork. Das in einigen Rezensionen anzutreffende Gerede vom angemuffelten Sound der Aufnahmen scheint mir eher ein Reflex von mittelalterlichen Dudes zu sein, die mit der frisch gewichsten Spitze ihres Pimmels uns allen mal unbedingt aufschreiben wollen, was sie sich für eine ULTRAGEILES UND ULTRATEURES Equipment leisten können. Die mit der Renaissance des Vinyls parallel verlaufende Erfolgswelle für Hi-Fi-Equipment ist ein ärgerlicher Kollateralschaden.


     



Erschienen auf Ear Music. 2022.

11.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 16: S.Carey - Break Me Open




S.CAREY - BREAK ME OPEN

Es wird dunkel. 

Was auf Sean Careys "Hundred Acres" aus dem Jahr 2018 zunächst auf dem Cover-Artwork, später in seiner Musik ein nachglühender Sommertag im August war, ein Naturbild voller Leben, mit dem ausströmenden Duft einer Blumenwiese, dem leisen Plätschern eines Bachlaufs, zirpenden Grillen und zwitschernden Vögeln, ist auf "Break Me Open" eine kalte, tiefe Winternacht. Ein eisig schneidender Wind, der einem durch gleich drei Paar Wollsocken pfeift und dabei das Herz schockfrostet. Und wenn Sie noch mehr metaphorische Allerweltsbilder und Beobachtungen aus der Kategorie "Primark-Unterhosenset, handgebatikt & mundgeblasen" benötigen, rufen Sie mich einfach an. 

In den vier Jahren seit "Hundred Acres" musste Carey miterleben, wie seine Ehe zerbrach und sein Vater starb. Roger Willemsen schrieb einige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod den Bestseller "Der Knacks", eine Auseinandersetzung mit dem einen Atemzug, "ab dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war". Dieser feine Riss im Leben, von dem man in genau jenem Moment weiß, dass er sich nicht mehr schließen, sondern weiter ausbreiten und in der Fläche verzweigen wird. "Break Me Open" ist nicht nur durch die Parallele im Titel die musikalische Aufarbeitung eines solchen Risses, es ist mehr noch eine Nachverfolgung, sowohl eine Suche nach den Ursachen, als auch eine Ahnung, in welche Ecken und Räume er sich noch ausbreiten wird. Am Eindrücklichsten zeigt sich diese Vertiefung in die an seine Kinder gerichteten Textzeilen wie 

If I ever lost you 
I'd throw myself into the deepest riverbend
And pray that I might find you
In places that I don't even believe in 

des Openers "Dark", der musikalisch nach einem dürren, desolaten Beginn in ein kräftig stampfendes Crescendo mit Bläsern und üppigen Syntiewallungen kippt, als sei es die doppelt unterstrichene Versicherung sich selbst gegenüber, eine Vergegenwärtigung der eigenen Moral, wie ein Echtheitszertifikat. 

Nun bin ich üblicherweise mit einer gesunden Ambivalenz für einen solchen Sound einerseits und jene über-emotionalen Inhalte andererseits ausgestattet. Es finden traditionell nur wenige Platten mit einer derartigen Ausrichtung den Weg in die Sammlung, und noch viel weniger den Weg auf diesen Blog. Mir erscheint das all zu zu oft als volkstümliche Unterhaltung, als eine klebrige Befindlichkeitssoße, kalkuliert, redundant, glatt und ranschmeißerisch. Ich möchte damit eigentlich nichts zu tun haben. "Break Me Open" von all jenem Pathos freizusprechen, wäre auf den ersten Blick unpassend; besonders die hymnischen, opulenten Momente tragen bisweilen eine dicke Gefühlswatte auf. Die Grundsubstanz indes ist bei näherer Betrachtung zierlich und fragil, und manches Arrangement scheint sich nur mit letzter Kraft auf den Beinen halten zu können. Das spärlich instrumentierte "Waking Up" begleitet Careys Lyrik nur mit einer getupften Pianomelodie, die zudem so intim aufgenommen wurde, dass sogar das Treten der Pedale des Instruments zu hören sind. 

Well, I'm waking up
Just a shell of who I was
But I want to shake you
It's me, it's me, it's me

Carey sagt , "Break Me Open" sein kein "Scheidungsalbum". Es handele von Liebe, von Hoffnung, von Aufrichtigkeit und Wachstum, es sei ein Aufruf dazu, sich verletzlich zu zeigen. Der Weg, den er wählte, um diese Themen zu verarbeiten, bewegt mich sehr. Fast jede Textzeile löst ein Gefühl der Verbundenheit in mir aus - mal, weil mir die Gedanken selbst so nahe stehen, mal weil die Empathie sämtliche Schleusen öffnet und ich mich plötzlich an seiner Stelle sehe. Ich war an diesem Ort schon einmal, vielleicht in einer anderen Zeit, vielleicht unter anderen Vorzeichen - aber ich spüre die Schwingung, den Schmerz, die Leere. Viel wichtiger aber ist die Rekonstruktion jenes Empfindens und das Wissen darüber, sich hier nicht lange aufhalten zu müssen. Da ist kein Vergessen und kein Verdrängen - da ist Einheit und Verständnis. Und irgendwie auch die vage Vermutung, auf das nächste Level gesprungen zu sein. 

Am Ende singt Carey in "Crestfallen"

I love you anyway
Don't be afraid
I'll be here till the end
I'll be a friend
Don't be afraid
Our time is paramount
We're running parallel

Und man ahnt, eine sehr grundsätzliche Komponente dessen, was Leben bedeutet, verstanden zu haben. 


Vinyl: Pressungen von Jagjaguwar sind traditionell mit Vorsicht zu genießen, oder besser: zu kaufen. Audiophile Giganerds, für die ein einzelnes Knacken zwischen zwei Songs ausreicht, um mit einem Atomschlag gegen das Presswerk zu drohen, halten besser Abstand. Meine Version auf schwarzem Vinyl fühlt sich bereits am Schnitt des Plattenrands dodgy an, sieht mit einigen, auch nach einer Wäsche nicht verschwindenden Schlieren auf der Platte dodgy aus und und hört sich angesichts einiger Hintergrundraspler manchmal auch dodgy an. Das ist keine desaströse Pressung, aber man spürt, dass hier was nicht komplett in der Reihe ist. Bedruckte (ungefütterte) Innenhülle mit Texten, kein Downloadcode. Das Cover empfinde ich vor allem im Vergleich mit dem Vorgänger als eine kleine Enttäuschung. (++)


 


Erschienen auf Jagjaguwar, 2022.

05.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 17: Inhmost - Space & Awareness



INHMOST - SPACE & AWARENESS

"Space And Awareness" ist kein reines Ambient-Album. Sollte es auch nicht sein; Simon Huxtable wollte die Vielschichtigkeit seiner Eindrücke und Empfindungen aus jener Zeit einfangen, in der er ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für sein Umfeld entwickelte, für Menschen, Räume, Zeiten. So lassen sich hier, wie auch schon auf seinem Album "Everything Is New", Anleihen aus dem Downtempo sowie IDM-kompatible Beats finden. Sie sind Inhmosts Chiffre auf einem Album, dessen Nährflüssigkeit von einem Cocktail aus elegischer Nostalgie einerseits und den Verheißungen der Gegenwärtigkeit andererseits durchzogen ist. 

Das Gefühl, das "Space And Awareness" vermittelt, ist folgerichtig ambivalent - nicht zuletzt, weil die Ansprache über die Musik so klar, so unkompliziert ist. Ich nehme dennoch stets Schwingungen von Traurigkeit wahr, des Verlusts, des Vergangenen und Zerfallenen und zu gleichen Teilen die Sensation des Aufbruchs und der Jetztzeit. Ich rieche frisch gemähtes, nasses Gras genauso wie die Ausdünstungen ausgefranster Couchgarnituren, spüre den frischen Tau eines glasklaren Morgens auf der Haut und zeitgleich die Berührung des ausgeblichenen, beinahe durchsichtig gewordenen Hemds, das sich so weich und vertraut anfühlt. Und zwischen all das passt: Nichts. Da kommt eine Welle auf mich zu, die ich nur fühlen, aber nicht aufteilen, nicht differenzieren kann. Auf "Everything Is New" war das Überhangmandat zum lockeren Sepia-Sundowner am Strand klarer in diesen einnehmenden Sound gehängt - auf "Space And Awareness" hingegen ist Ganzheitlichkeit das bestimmende Element.

Und Eleganz. Das ausgerechnet in diesem Kontext zu äußeren, ist eigentlich nicht ganz fair, weil der Eindruck entstehen könnte, als sei "Everything Is New" ein Haufen lauwarmer Schlamm gewesen - und das war es natürlich nicht. Allerdings empfinde ich den ästhetischen Sprung, angefangen beim stilvollen Coverartwork bis hin zu den geschmackvollen Sounds als durchaus substantiell. "Space And Awareness" wirkt bisweilen kühl, als hätte man einem Bild im Temperaturfilter ein paar Grad abgezogen. Distinguiert, weil Reduktion für Klarheit sorgt. Introvertiert, weil Vergegenwärtigung nie im Außen passiert. 

Vor einigen Jahren machte ich die Bekanntschaft mit einem Parfum von Andrée Putman. "Prépération Parfumée" war ein auf jeder Ebene unscheinbarer Duft. Kein Marketinggetöse. Ungewöhnlich leise und mit feiner, subtiler Struktur; mit Noten von Treibholz und weißem Pfeffer fast durchsichtig. Als ein dazu passendes Bild erschien mir ein Frühlingsspaziergang entlang eines kleinen Bachlaufs in grauem Nieselregen als angemessen. Ich finde, "Space And Awareness" würde sich als Soundtrack für einen solchen Spaziergang geradewegs aufdrängen.


Vinyl: Single LP in schwarz. Kein Downloadcode. Einwandfreie Pressung. Das Design des Cover-Artworks sieht im LP-Format und mit der schwarzen Schallplatte einfach hinreißend gut aus. (+++++)


 


Erschienen auf Tonights Dream Records, 2022.

03.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 18: Birds Ov Paradise - Memorial




BIRDS OV PARADISE - MEMORIAL


Ich hatte an anderer, früherer Stelle dieses Countdowns ganz möglicherweise schon das ein oder andere Mal durchblicken lassen, dass 2022 das abgefuckteste Scheißjahr seit exakt zwanzig Jahren war, und als im Februar das ganze Unheil seinen Lauf nahm, ich also von Arztpraxis zu Arztpraxis lief und wieder jene lähmende Angst spürte, die mich bereits früher um Schlaf, Energie, Lebenskraft und -freude brachte, war "Memorial" beinahe jeden Tag und über volle zwei Monate Bestandteil meiner musikalischen Morgenroutine. Weil es mich so beruhigte wie es keine andere Musik vermochte. 

Meine erste Begegnung mit David Sabels Projekt fand im Laufe des ersten Coronajahres statt. 2020 begann ich damit, mich noch tiefer mit den über das Ambientgenre hinausgehenden Spielarten elektronischer Musik auseinanderzusetzen und schaute mich beim im Süden Deutschlands ansässigen Mailorder deejay.de um. Und nicht nur ist ihr Reservierungs- und Sammelsystem mein Ruin, sondern auch die sehr bequemen Möglichkeit, in neue Platten reinzuhören. Bei Birds Ov Paradise' "Köpp", der 12-inch aus dem April 2020, war es nach wenigen Sekunden klar: das ist sehr spezielle Musik. Sehr hypnotischer, sehr treibender Techno - und doch melodisch flackernd und durchlässig für die emotionale Tiefengrundierung, die elektronischer Musik nicht selten kategorisch abgesprochen wird. Meistens von Menschen mit eigener Tiefengrundierung in der Stärke eines Stücks recycelten Toilettenpapiers, das selbst in unbenutztem Zustand seine olfaktorische Herkunft nie so ganz verschleiern kann. Mit "Köpp" war also die Tür weit offen für die Anwendung meiner aus dem Metal herübergeretteten Loyalität. Wer mich als Fan erstmal am Arsch kleben hat, bekommt mich so leicht nicht mehr los. 

"Memorial" ist nach einer Reihe von 12-inches das Debut von Birds Ov Paradise. Erschienen auf dem schwedischen Label Hypnus, die in der Vergangenheit unter anderem das nach wie vor brillante Debut "La Via Della Seta" des italienischen Duos Primal Code veröffentlichten. Vermutlich gibt es kein Label, bei dem diese Musik besser aufgehoben wäre. "Memorial" entstand während des ersten, praktisch weltweiten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020. David entwickelte in dieser Zeit ein Klangtagebuch für die Menschen um ihn herum, die ihm nahe stehen. Jedes Stück trägt den Namen einer geliebten Person. Eine Ode an die Freundschaft, an die Verbundenheit, die Gemeinschaft, den Zusammenhalt - und die Liebe. Vielleicht findet das Konzept auch deshalb so viel Widerhall in mir, weil meine emotionale Entwicklung zu all jenem Klimbim mittlerweile eher in der untersten Schublade des Eisfachs angekommen ist. Zwei Jahre Corona haben für einen, der all zu argem zwischenmenschlichen "Gedöns" (Gerhard "Gecht" Schröder) seit jeher, ich formuliere es sehr zurückhaltend: skeptisch gegenüberstand, endlich genau jene nun völlig akzeptierten Entschuldigungen parat gehabt, die im prä-pandemischen Zeitalter als verschroben und eigenbrötlerisch galten. Diese Platte stellt dieser Tendenz einen unironischen und überraschend unkitschigen Kontrapunkt gegenüber. Ich kann zwar auch als professioneller Ja-Sager und "Gummimann" (Antitainment) nicht aus meiner Haut, aber ich kann diese Musik darunterkriechen lassen. Fürs gute Gefühl.

Und scheißrein, es macht mir ein gutes Gefühl! Die emotionale Wärme, die "Memorial" über den konzeptionellen Überbau einerseits, und den Klang und die hypnotischen Tracks andererseits ausstrahlt, ist unwiderstehlich. Es knistert wie ein frisch entzündetes Kaminfeuer, rollt den flauschigsten (Asbest-)Flokati des Universums auf den Boden der Waldhütte in den schwedischen Wäldern aus, Saunaaufguss Lavendel-Melisse, Glühwürmchen. Hochverdichtete Tiefsinnigkeit im Zeichen des Stechapfels. 

Ich will hier nie wieder weg. 

Vinyl: Meine Version auf schwarzem Vinyl (neben der es auch noch eine in Pink/Rosa/Lachs/Magenta/wasweißdennich gibt) ist hey-okay. Platten von Hypnus können machmal Probleme haben, aber meistens sind die dann nicht schwerwiegend. Das Cover-Artwork ist angemessen abstrakt, und vor allem die für Hypnus typischen abgerundeten Kanten des Covers sind immer wieder ein echter Hingucker. (++++) 


    



Erschienen auf Hypnus Records, 2022.