08.04.2012

The Memory Of Sound



PORTER RICKS - BIOKINETICS

Überraschung #1: so richtig ernsthafte Technoalben gab es schon in den neunziger Jahren. Also nicht so ein Westbam-Geklöppel mit Duracell im Popo, sondern so richtig ästhetisch wertvollen Techno, meinetwegen Dubtechno...okay, okay: von mir aus auch Ambienttechno. Überraschung #2 - Type Records feiert die Wiederveröffentlichung von "Biokinetics" als den 100.Release aus dem eigenen Hause. Überraschung #3: diese Musik ist nicht einen Tag gealtert.

Als "Biokinetics" im Jahr 1996 auf Chain Reaction, dem Techno Label von Mark Ernestus und Moritz von Oswald, erschien, entdeckte ich gerade Cradle Of Filth - nichts, worauf man im Rückblick stolz sein müsste, aber sei's drum - und hatte mit elektronischer Musik im Allgemeinen noch gar nichts am Hut. Dass mir Type nun die Möglichkeit gibt, dieses außergewöhnliche Werk zu bestaunen, noch dazu erstmals auf Vinyl, lässt meine Musiklibido mit aus alten CD-Booklets von Marusha geschreddertem Konfetti werfen. Was uns zu Überraschung #4 bringt: für gewöhnlich lehne ich "alte" elektronische Musik ab, weil sie für meine Ohren meist angestaubt und überholt klingt. Wäre vielleicht ja auch mal ein Thema für die Zukunft, herauszufinden, warum ich so schiefe Ohren habe.

Porter Ricks sind Thomas Köner und Andy Mellwig, zwei Künstler, die auch mal gerne als das Dream Team des Sound Designs bezeichnet werden. Der eine, Mellwig, betreute als Engineer im Berliner "Dubplates & Mastering" unzählige Technoproduktionen, veröffentlicht die eigene Musik unter dem Continuous Mode-Banner und hat Nebenprojekte mit Kevin Shields (My Bloody Valentine) und Pete Kember (Spacemen 3) am Köcheln. Thomas Köner hingegen beeinflusste mit seinen Klassikern wie "Nuuk" oder "Permafrost" Legionen von elektronischen Musikern, erweiterte jedoch seit Beginn seiner Karriere den audiophilen Teil seiner Kunst mit dem visuellen und arbeitet fortwährend an der (Weiter)Entwicklung der Umsetzung von Ton in Bild, was ihn Anerkennung und Engagements der Kunstwelt einbrachte.

"Biokinetics" beinhaltet Songs aus zuvor unveröffentlichtem Material des Duos und ist, wird das große Ganze als Argumentation für einen Klassiker herangezogen, mehr als die Summe der einzelnen Teile. Es sind in erster Linie drei Songs, weswegen diese Platte existiert - aber sie wären völlig wertlos, wären da nicht die flankierenden Rumpler und die angeschrägten Begleiter, die "Biokinetics" eine Storyline zwischen dem umwerfenden Beginn mit "Port Gentil", dem brodelnden  "Biokinetics 2" zur Mitte und dem gleichfalls beeindruckenden Ende "Nautical Zone" verpasst. Es hat den Anschein, als ob diese acht Tracks durch zwar unsichtbare, aber ätherisch geknüpfte Nervenbahnen miteinander verbunden sind; sie schwingen ineinander, sie verschmelzen, teilen und trennen sich wieder. Was sie nach der Trennung hinterlassen sind homöopathische Dosen von Informationen und Ideen, von abstrakten und verschwommenen Erinnerungen - heutzutage immer noch von ganzen Labelkatalogen, von Hyperdub über Honest Jon's bis hin zur posturbanen Übermoderne von Brainfeeder gelesen, genutzt und verarbeitet.

Wiederveröffentlicht auf Type, 2012

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