GARRY MULHOLLAND - FEAR OF MUSIC - THE 261 GREATEST ALBUMS SINCE PUNK AND DISCO
Wir lieben Listen. Listen sind toll. Musiklisten, Bestenlisten, zumal. Sie provozieren immer eine Reaktion - und in neun von zehn Fällen fällt ebenjene überaus kritisch aus, fällt sie nicht? Geradewegs vernichtend. Aufstellungen, die Alben oder Singles oder auch nur einzelne Songs präsentieren, sind grundlegend immer unvollständig. Sie listen immer (IMMER!) die falschen Platten auf. Und es gibt niemals ein anerkennendes Nicken, wenn der Autor mal ausnahmsweise ins richtige Töpfchen griff. Das sind schließlich Selbstverständlichkeiten.
Der britische Musikjournalist Garry Mulholland hat nach seinem Mammutwerk "This Is Uncool - The 500 Greatest Singles Since Punk And Disco" aus dem Jahr 2002, ein vier Jahre später erschienenes weiteres Mammutwerk vorgelegt. "Fear Of Music" behandelt diesmal, wie bereits am Untertitel zu erkennen ist, das Albumformat - an dem sich Mulholland eigentlich nicht abarbeiten wollte. In der Einleitung zum vorliegenden Buch schreibt er, dass er Singles im Pop-Kontext schon immer wichtiger und spannender fand: sie mussten in ihrer kurzen Lebensdauer von drei oder vier Minuten das Langzeitgedächtnis mit ihrer einzigen Idee tapezieren. Die unmittelbare Auseinandersetzung und das Touch & Go-Prinzip können faszinieren, und sie stehen in direktem Widerspruch zur Kunstform "Album", die mit dem Vorhaben ins Rennen geht, man baue eine langfristige Verbindung auf, die im besten Fall ein ganzes Leben lang hält.
Mulholland geht chronologisch vor. Die Ramones stehen mit ihrem Debut aus dem Jahr 1976 an erster Stelle, am Ende steht das Hip Hop-Duo Outkast mit ihrem "Speakerboxxx/The Love Below"-Brocken von 2003. Das alleine reicht aus, um wenigstens die stilistische Bandbreite, aber auch besonders die Entwicklung über 27 Jahre hinweg zu verdeutlichen. Womit der aus meiner Sicht größte Pluspunkt von "Fear Of Music" bereits erwähnt ist. Denn auch wenn der Schwerpunkt deutlich auf den Jahren 1977 bis 1982 und dem damaligen Höhepunkt der Punk und Post Punk-Ära liegt - nicht weniger als 105 von den präsentierten 261 stammen alleine aus diesen 5 Jahren - ist es ausgesprochen erfrischend, wenn nach den erwähnten Ramones und den Modern Lovers plötzlich eine Stevie Wonder-Scheibe auftaucht. Oder dass nach dem Body Count-Debut (und da geht das eingangs erwähnte Diskutieren schon los, ne?!) und "Copper Blue" von Bob Moulds Sugar, die Country-Folk-Rock Truppe der Jayhawks auf der Matte steht. Talking about changes: Mulholland hat ein weiteres Steckenpferd. Spätestens ab 1988 entdeckt er den Hip Hop für sich und huldigt neben mehr oder minder bekannten Alben von Eric B. And Rakim, EPMD, Public Enemy, Cypress Hill, A Tribe Called Quest, De La Soul und den unvermeidbaren N.W.A. auch obskurem Stoff, beispielsweise "Bazerk, Bazerk, Bazerk" von Son Of Bazerk (Featuring No Self Control And The Band), "the greatest-ever hip hop album that no one's ever heard of", bevor in den späteren Jahren auch Stars wie Nas, 2 Pac, Dr.Dre und Eminem auf ihre Kosten kommen. Auch in späteren Zeiten tauchen immer wieder Werke auf, die schon lange vom Radar der Musikwelt verschwunden sind, wie zum Beispiel das vor allem in den USA völlig untergegangene "Kaleidoscope"-Album von Kelis. Gerade in diesen Momenten macht es großen Spaß, sich durch dieses Buch (= durch die eigene Sammlung = Ebay = Mailorderfirmen) zu tauchen, auch wenn Mulholland das weitverbreitete, nerdige Verhalten, das immer die unbekanntesten und ominösesten Alben in den Vordergrund stellt, entschieden ablehnt. Auf der anderen Seite: wir alle kennen "Thriller" oder "Ray Of Light" und wir alle sind immer auf der Suche. Immer auf der Suche. Suche. Immer. Alle. Wir. So.
Zu jedem Album gibt es Angaben über die Produzenten, die Schlüsselsongs, die Plattenfirma, das genaue Erscheinungsdatum, sowie die Chartpositionen in England und den USA. Letztere sind im ein oder anderen Fall beeindruckend, verdeutlichen sie doch die kulturelle Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Wo Hip Hop- und R'n'B-Alben jenseits des Atlantiks regelmäßig große Erfolge feiern konnten, verbuchen dieselben Scheiben in England deutlich niedrigere Chartplätze. Entgegengesetzt sind Punk und Post Punk-Alben blanke Hits im Königreich, während die USA in vielen Fällen nicht mal Notiz von ihnen nahm. Das wird in den teils sehr persönlichen Anmerkungen, die Mulholland zu jedem Album abliefert garniert und liest sich dank der vielen Hintergrundinformationen und Querverweise runter wie Apfelsaft.
Unabhängig von meiner subjektiven Einschätzung hinsichtlich seiner Auwahl fällt es mir dennoch schwer, den verbindenden Faden zu finden - und ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass es zunächst unangemessen erscheint, überhaupt anzunehmen, dass es einen solchen per se geben muss. Vielleicht ist diese Zusammenstellung doch das beste Gegengift gegen ein solches Gerüst?! Und steht sie nicht für sich selbst? Erteilt sie mit ihren ganzen Stilbrüchen nicht automatisch eine Absage an all jene, die verzweifelt nach einer Struktur suchen? Andererseits erwähnt Mulholland selbst, dass er hofft, das Buch erzähle eine Geschichte und zeige die Entwicklung auf. Um verbotenerweise zu werten: ich kann der Hoffnung nur zur Hälfte entsprechen. Zwar verstehe ich sein Anliegen und ich kann der Geschichte und der Entwicklung auch folgen - aber sie hat Lücken. Und jetzt kann ich das Grinsen auf Euren Gesichtern erkennen.
Es geht mir allerdings weniger bis gar nicht um die ersten Absatz beschriebene "beleidigte Leberwurst", die kurz vor einem Fenstersprung aus der 34.Etage steht, weil das heilige Lieblingsalbum nicht genannt wird, sondern um die fehlende Konsequenz, das abgesteckte Terrain aus zu füllen. Einerseits fehlen Beispiele aus der elektronischen Musik bis auf die sicheren Standards von Kraftwerk, dem zumindest wegeweisenden "My Life In The Bush Of Ghosts" von Eno und Byrne und einer halben Handvoll Compilations vom Techno/House Urknall Ende der 80er Jahre komplett, ebenso lässt er Beispiele aus der Grunge-Ära völlig außen vor, Metal bis auf die leicht irritierende Auswahl von System Of A Downs "Toxicity" sowieso. Und vom Jazz ist nur in einigen Hip Hop Reviews die Rede. stattdessen müssen wir uns drei Mal durch Massive Attack, zwei Mal durch Portishead und immerhin nur ein Mal durch ein Tricky-Album kämpfen, also durch ein Genre-Phänomen namens Trip Hop, das zeitlich als auch künstlerisch arg limitiert war...und dummerweise weiterhin ist. Ich gebe zu, dass ich seinen Ansatz vor diesem Hintergrund nicht ganz verstehe. Aber möglicherweise geht es ihm eben auch gar nicht um das große, komplette Bild; wohlwissend, dass er es gar nicht zeichnen kann. Es geht nicht darum, den Komplettisten zu befriedigen. Es geht auch nicht um Konsens. Oder etwa doch?
Geht es um den großen, unausgesprochenen Konsens, der allen präsentierten Alben innewohnt? Der dafür sorgte, dass Michael Jackson vor 30 Jahren auch deswegen eine so große Karriere vor sich hatte, weil er auch von Punkern heimlich gehört wurde? Oder dass Hip Hop-Alben außerhalb der dafür vorgesehenen Community gehört und respektiert wurden? Irgendein verstecktes Noten-Gen, dass die Botschaft aussandte, dass man zusammen gehört?
Am Ende ist's doch wieder pathetischer Mist, immer diese esoterische Idee von der verbindenden Kraft der Musik auf zu wärmen. Nur: man möcht's halt so sehr gerne glauben. Diese Einsamkeit macht auf Dauer eben doch mürbe.
...
Auf zwei der im Buch versteckten Hinweise möchte ich dann dennoch gerne, äh, hinweisen.
Erstens hat er mich sofort mit der Nennung des letzten Afghan Whigs-Albums "1965" im Sack gehabt. Period. Darüber gibt es demnächst an dieser Stelle auch etwas zu lesen.
Zwotestensns: Prince! Prince! Großer Gott: PRINCE!!!
Erschienen bei Orion Book, 2007
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