27.06.2010

Blues And Beyond

Joëlle Léandre & Akosh S. - Kor

"Jazz is taught now in conservatoires along the same lines as classical music, with concours [competitive exams] at the end of the year and all that.. We're producing a generation of old young people who know it all at age 27. It's sterile, antiseptic; there's no danger, no experimentation. I'm completely against it."
Leandre ist wütend. Wütend über eine verkrustete, unbewegliche Szene, die einerseits jede Sekunde den Non-Mainstream feiert, weil's halt so schön anspruchsvoll und unangepasst wirkt, andererseits aber all das, was sie nicht versteht, als "schwierig" und "abgehoben" verdammt. Über Konzertveranstalter, die Musik wie jene auf "Kor" am liebsten in 10qm großen Toiletten live präsentieren würden, weil sie es ihrem "geliebten Publikum", ergo: der goldenen Kuh, die man 24/7 melken muss, zur Primetime nicht zumuten können.

Die französische Bassistin, deren eindrucksvoll umfangreiche Diskografie ein Buch füllen würde, und die bereits mit Größen wie Hamid Drake, Marilyn Crispell, Anthony Braxton, John Zorn oder Evan Parker zusammen spielte, zelebriert auf "Kor" mit dem ungarischen Saxofonisten und Multiinstrumentalisten Szelevényi Akos ein gut 50-minütiges, improvisiertes Set, live aufgenommen im Olympic Cafe in Paris. Ich wurde durch den großartigen Freejazz-Blog auf dieses Album aufmerksam, das ebendort die Höchstwertung erhielt. Die Zusammenstellung Bass/Saxofon fand ich darüber hinaus ebenfalls sehr spannend, womit für genügend Kaufanreize gesorgt war. Ich habe es nie bereut und hätte, ehrlich gesagt, schon sehr viel früher über "Kor" schreiben sollen, wo nicht müssen. Genau genommen hätte "Kor" ohne Zweifel in meine "Best Of 2008"-Liste gehört. Ich glaube, Lloyds "Rabo De Nube" hat ihm in letzter Sekunde den Rang abgelaufen. Sei's drum.

Allein die Ausgangssituation bringt Begriffe wie "spröde", "rissig" oder "Zerfasert" in die Diskussion, und das, ohne vorab auch nur einen Ton gehört zu haben. Dabei ist es mitnichten ausschließlich der knarzende Bass, der für die Breite und den unbeweglichen Krunsch (wtf?) sorgt und der außerdem in so manchem Moment klingt, als würde er mit Leandre spielen und nicht umgekehrt. Das Ding lebt doch?! Leandre zieht alle Register: mal schmeckt es nach Mutterboden, nach rauchigem Holz, nach porösem Lavagestein, mal nach einem indischen Spiritual oder den Eislandschaften eines Thomas Köner. Auch Akoshs Spiel nimmt Leandres Grundmotive dankbar auf, ohne nicht auch hier und da in ein sattes Grasgrün zu tauchen und es Melodien regnen zu lassen. Ihre Kommunikation ist beeindruckend zu verfolgen, sie sind Seite an Seite und mit unsichtbaren Seidenfäden miteinander verbunden. Selbst wenn sie sich voneinander entfernen, treffen sich ihre Wege in dem großen Synapsen-Schaltkasten. Weil sich jeder auf den anderen einlassen kann, weil sie sich blind vertrauen können. Das hört man tatsächlich, und das gibt über die Musik hinaus einfach ein sehr starkes, positives und helles, leichtes Gefühl.

Besonders beeindruckend: Leandres tiefes Gebrüll über Akoshs in Fetzen fliegendes Saxofon in "Part 2". Ist das schon Avant-Blues? Es zieht einem die Kehle zu, man ist angewidert und fasziniert in einem. Katharsis ist ein Scheiß dagegen. Und trotzdem: "Kor" ist zu keiner Zeit abgehoben oder verkopft, ich empfinde es im Gegenteil als sehr geerdet und verwurzelt.

"People are there, they listen, they're moved. Who says this is difficult music?!" - Ja, wer eigentlich?

Erschienen auf Leo Records, 2008

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