"I think we’ve reached the stage where the only good thing that can happen is destruction on some level. Let’s give the cockroaches a go!" (Jaz Coleman)
Es ist ein bisschen peinlich, aber ich fühle mich dennoch verpflichtet, es öffentlich zu äußern: ich bin erschütternd spät zu Killing Joke gekommen. Und wenn ich's halbwegs genau nähme, hat es erst im Laufe der letzten zehn Jahre zwischen uns so richtig gefunkt. Für lange Zeit nahm ich der Band die stilistischen Anpassungen ihres Sounds, ganz besonders jene, die sie zu Beginn der neunziger Jahre vornahm, nicht ab und hielt besonders "Pandemonium" für eine unangenehm dem damaligen Zeitgeist folgende Angelegenheit, was stets Abzüge im Glaubwürdigkeitsranking mit sich brachte. "Pandemonium" war 1994 das bis dato mit einigem Abstand härteste Killing Joke-Projekt und wies darüber hinaus nur noch Spurenelemente ihres früheren Sounds auf, der allerdings - und auch das half der Credibility nicht so recht - auch schon in den 1980er Jahren ein paar deutliche Kurskorrekturen durchmachen musste.
Das Trio mauerte 1994 eine meterdicke Wand aus sirupartig aufgetragenen Gitarren und robusten, gewaltig groovenden Beats, gegen die Sänger Jaz Coleman mit heiserem Gekreische anbrüllen konnte. Das zog auch hinsichtlich der als weiteres Stilmittel eingeführten Monotonie einige Parallelen zur "Psalm 69"-Phase von Ministry oder auch Trent Reznors Nine Inch Nails und passte insgesamt bestens in die florierende Alternative/Industrial-Szene. Killing Joke walzen auf "Pandemonium" nicht selten mit maximal drei Riffs durch fünf bis sieben Minuten dauernde Songs, und sie hören einfach nicht damit auf - ein Rezept, das auch auf ihren späteren Alben ab Mitte der 2000er öfter zur Anwendung kam. Das muss man aushalten können. Und wollen. Angesichts der Legion musikalischer Harmlosigkeiten, die die Rockszene in den letzten dreißig Jahren hervorbrachte, wirkt "Pandemonium" selbst im Jahr 2025 fast noch ein bisschen wahnsinniger und gefährlicher als 1994. Sowas lässt sich nicht oft über dreißig Jahre alte Platten sagen.
Vinyl und so: Es gibt LP-Reissues von "Pandemonium" von Let Them Eat Vinyl (2008) und Spinefarm Records (2020) und zumindest letztgenannte ist trotz der Herstellung bei GZ Media eine hervorragend klingende Pressung. Ich habe keinen Vergleich zum Original aus dem Jahr 1994, das allerdings in gutem Zustand auch deutlich teurer ist, wenngleich weit entfernt von den üblichen komplett absurden Preisen.
Rest In Power, Geordie.
Erschienen auf Butterfly Records/Zoo Entertainment, 1994.
"Strange isn't it? All of humanity and what you call civilization, originated right here...in this little pond of goo." (Q)
"Manic Impressions" wurde insbesondere aufgrund der unwiderstehlichen Coverversion des New Model Army-Klassikers "I Love The World" eine größere Aufmerksamkeit zuteil, als man es wegen der ansonsten durchaus extravaganten Ausrichtung des Albums erwarten konnte. Die aus St.Louis, Missouri stammende Band gilt gemeinsam mit Kapellen wie Realm oder auch den frühen Thought Industry als eines der Aushängeschilder einer recht kurzlebigen Welle von Musikern, die präzise und technisch anspruchsvoll gespielten Thrash Metal mit progressiven, bisweilen experimentellen und psychedelischen Elementen verknüpften. Damit verdrängten ungewöhnliche Akkordfolgen, sprichwörtlich aus der Reihe tanzende Rhythmuswechsel und komplizierte Arrangements die klassischen Markenzeichen des Genres, wie beispielsweise ein hohes Tempo und konfrontative Aggressivität - letztere richtet sich auf "Manic Impressions" gar meist ins Innere, statt ins Äußere. Der womöglich widerspenstigste Aspekt der Musik von Anacrusis ist der prominent inszenierte Gesang von Kenn Nardi, der spielerisch und in Sekundenbruchteilen zwischen psychedelischem Klargesang, rauhen Thrash-Schreien und beinahe bis in den Bereich von Black Metal vordringendem Gekeife umherspringt. Auch darüber hinaus ist "Manic Impressions" nicht leicht zu konsumieren. Es braucht ein bisschen Zeit und Wille, um sich in dieser dunklen, abweisenden, atmosphärisch überwucherten Welt zurechtzufinden und sich gleichfalls auf eine Intensität einzulassen, die sich vor allem aus einer sehr ungnädigen, strengen Selbstbetrachtung ergibt. Das kann eine Herausforderung sein, aber wer das Eingangstor gefunden hat, blickt nicht mehr zurück.
Vinyl und so: Metal Blade hat vor einigen Jahren die komplette Diskografie der Band auf Schallplatte wiederveröffentlicht, neben "Manic Impressions" gibt es nun also auch Reissues der Alben "Suffering Hour", "Reason" und "Screams And Whispers" in wirklich wunderbar gestalteten und superb klingenden Versionen, die mittlerweile auch oft im Preis reduziert wurden. Damit lohnt es sich nun doppelt, in das Oevre dieser fantastischen Band einzutauchen.
"Radikale Askese, das bedeutet immer und überall nur Charakterschwäche." (Thomas Mann)
Das selbstbetitelte Debut dieser in Los Angeles beheimateten Truppe um den ehemaligen Ozzy Osbourne-Gitarristen Jake E.Lee mag 1989 das kommerziell erfolgreichere Album gewesen sein, der im Sommer 1991 erschienene Nachfolger "Voodoo Highway" ist allerdings das Bessere. Die ungewöhnlich rau und erdig produzierte Platte lebt in erster Linie von einer schwülen Atmosphäre; als würde man nachts in einer heruntergekommenen Kneipe in einem Sumpfgebiet Floridas sitzen, Whiskey trinken und sich bei 40°C einem aussichtslosen Kampf gegen tollwütige Moskitos hingeben, während das Quartett auf der Bühne alle Leinen loslässt. Und obwohl Lee an der Gitarre mit seinem betont bluesigen Spiel dem Affen erwartbar ordentlich Zucker gibt, ist der geradezu entfesselt auftrumpfende ehemalige Sänger von Black Sabbath Ray Gillen der Star von "Voodoo Highway". Jener Gillen nahm mit der Band 1992 noch das Album "Dusk" auf, das allerdings erst einige Jahre nach seinem Tod im Dezember 1993 veröffentlicht wurde. "Voodoo Highway" ging in der sich langsam anbahnenden Grunge-Revolution leider völlig unter und gilt unter Kennern als eines der besten Rockalben, die niemand jemals hörte. Stimmungsvoller wurde Hardrock nur selten inszeniert und wer sich von dem bemerkenswerten Drive dieser Platte überzeugen möchte, hört am besten "Heaven's Train", das sich diese Göttertruppe leisten konnte, am Ende der B-Seite zu verstecken. Irre.
Vinyl und so: Die Originalpressung ist sehr selten und aktuell kaum unter 150 Euro zu bekommen. Leider ist hier noch kein Reissue in Sicht, aber for fuck's sake: es wird Zeit. Auch für den Erwerb der CD gilt: es gibt leichtere und günstigere Aufgaben und selbst im Streaming sieht's düster aus - mit Ausnahme von:
Ich halte von den Red Hot Chili Peppers seit 25 Jahren so viel Abstand wie irgend möglich, und würde den müden Corporate-Faltenrock mit senilem Zuchtbullen-Habitus ihrer aktuellen Alben selbst mit der Kneifzange nicht mehr anpacken, aber jene doch eher betrüblich zu bezeichnende Entwicklung hat ihrem Frühwerk in der Casa Dreikommaviernull glücklicherweise nur bedingt geschadet. Von ihren drei Alben, die in den neunziger Jahren erschienen sind, ist "Blood Sugar Sex Magik" trotz der zweifellos exzellenten Qualitäten des 1995 erschienenen "One Hot Minute" und des Meilensteins "Californication" aus dem Jahr 1999, der die Band dann final in die Stratosphäre der wenn auch nicht gerade künstlerischen, aber immerhin kommerziell unantastbaren Superstars schoss, ihr wichtigstes und den Zeitgeist am eindrücklichsten definierendes Album. Ein klassischer Fall für die Mischung aus "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" und "die Summe ist größer als die einzelnen Teile".
Denn dass die Platte mit 74 Minuten viel zu lang geraten ist, und dass damit zwangsläufig Songs auf "Blood Sugar Sex Magik" stehen, die wirklich niemand vermissen würde, wären sie in der großen Mülltonne mit dem übrigen Bandsalat gelandet, ist für die Bewertung und Einordnung komplett irrelevant. Die Attitüde der Band auf dieser Platte besitzt selbst über 30 Jahre nach der Veröffentlichung immer noch eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Die Chili Peppers waren mal autoritär anti-autoritär, und "Blood Sugar Sex Magik" ist zur letzten Tonspur vollgestopft mit sexuellen Innuendos, Drogen, Tabubrüchen, Kontrollverlusten und auch mal einem dezidierten Antirassismus: “Say what I want, do what I can/Death to the message of the Ku Klux Klan.” heißt es im Opener "The Power Of Equality". Wer über die Jugendkultur der neunziger Jahre einerseits und ihre spätere Vereinnahmung des Mainstreams andererseits als gesellschaftliches Phänomen sprechen möchte, kommt an diesem Album schlicht nicht vorbei.
Vinyl und so: Wer sich nicht mit völlig durchgenudelten und natürlich immer noch grotesk überteuerten Originalpressungen herumärgern möchte, greift idealerweise zum 2020er Reissue, das von den analogen Originalbändern gefertigt und auf zwei 180g Schallplatten gepresst wurde - und dabei schlicht umwerfend klingt.
Wer sich eingehender mit dem 1992 erschienenen Debutalbum dieser Seattle Band beschäftigt, mag erahnen, dass das medial gesetzte Narrativ, die Musikszene der Stadt im Nordwesten der Vereinigten Staaten habe sich Anfang der 1990er Jahre als kleines gallisches Dorf gegen die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der Schwanzrockszene aufgelehnt, nicht viel mehr ist als besinnungsloses Business-Kladderadatsch. Die Band um den ehemaligen TKO-Sänger Brad Sinsel hatte, ähnlich wie die frühen Alice In Chains, eine deutliche Schlagseite zu klassischem Glam- und Hardrock der achtziger Jahre, mischte dazu allerdings Elemente unter ihren Sound, die man in die Nähe dessen rücken kann, was Mother Love Bone auf ihrem legendären Debut "Apple" aufzogen. Los Angeles und Seattle in seltener Eintracht. Dabei waren die War Babies bestens in die Szene Seattles integriert und spielten im Laufe ihrer Karriere regelmäßig Shows mit den späteren Grunge-Superstars. Selbst Jeff Ament von Pearl Jam war hier mal mit von der Partie, und War Babies Schlagzeuger Richard Stuverud spielte ein paar Jahre später mit ebenjenem Ament auf den beiden Alben von Three Fish (mit Robbi Robb von Tribe After Tribe).
Der Ofen war kurz nach Veröffentlichung des Albums leider sehr schnell wieder aus, und natürlich sind Band und Album heute längst von jedem Radar gerutscht. Wer seinen Beobachtungsradius für die Musik der Neunziger im Allgemeinen und Seattles im Besonderen indes etwas erweitern möchte, darf sich gerne kopfüber in diese Platte stürzen.
Vinyl und so: Bislang hat sich noch niemand zu einem Vinyl-Reissue entschließen können, weshalb die Originalpressung heutzutage nur noch schwer und/oder für einen Haufen Geld zu bekommen ist. Bei der CD gibt es keine Probleme. Darüber hinaus erschien im Jahr 2024 unter dem Titel "Vault" eine LP mit Studio-Outtakes und Livemitschnitten, die sehr liebevoll zusammengestellt wurde, aber mittlerweile auch immer seltener zu finden ist.
"Mal sehen, ob und was uns dort erwartet." (Lothar Matthäus)
Liebe Leserin, lieber Leser,
Es ist an der Zeit, die vor einem knappen halben Jahr in einem kleinen Text verstohlen untergebrachte Ankündigung, den Countdown über die 200 besten Platten der neunziger Jahre auf meinen Blog zu wuchten, endlich in die Tat umzusetzen.
Und mir geht der Arsch auf Grundeis. Weil das Vorhaben auf mehr als nur einer Ebene so unüberwindbar groß erscheint, dass ein Scheitern praktisch vorprogrammiert ist. In meinem Kopf arbeite ich seit etwa vier Jahren an dieser Aufstellung, in der eisigen Realität mittlerweile unzähliger Excelsheets stehe ich seit gut zwei Jahren im ölverschmierten Blaumann im Maschinenraum der Plattensammlung und prokrastiniere fröhlich vor mich hin. Und ich wünschte noch immer, es handele sich hierbei um eine schamlose Übertreibung.
Das große Fass mit den Feigenblättern in allen vorstellbaren Größen war mir in dieser Zeit stets ein treuer Begleiter, denn es muss immer Gründe dafür geben, das Projekt weiter auf die längste Bank der Welt zu schieben. Habe ich etwas vergessen? Ich habe doch ganz bestimmt etwas vergessen?! Muss das Album nicht auf einer viel höheren Platzierung stehen? Und warum überhaupt "Platzierungen"? Tut's nicht auch eine Sortierung nach dem Alphabet? Oder nach den Erscheinungsjahren? Pah, Sortierung my ass - ich würfel den Kram einfach aus. Als ob es wirklich irgendwen interessiert, ob eine Platte auf Platz 121 oder 118 steht, ist doch alles Blödsinn. Und dann erinnere ich mich an diese eine berüchtigte 90er Liste des Online-Magazins Pitchfork, in der Holes "Live Through This" vor Nirvanas "Nevermind" stand, und der Griff reflexartig zum Handy ging, um die Notfallnummer für akute Schlaganfälle zu wählen. Will ich mir wirklich einen solchen Quadratquatsch antun?
Natürlich will ich das, und zwar extradreckig. Zu Beginn delirierte ich noch mit dem Plan durchs Leben, 50 Platten seien ja wohl locker ausreichend. Und als der erste Entwurf fertig war, "erkannte ich, dass das keine Lösung war" (Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen). Also gut, drehen wir den Spaß auf 75 hoch. Hm, 100 sind besser. Okay, 150. Aber jetzt ist Schluss, ich kann hier ja nicht jeden halbsteifen Mist, den irgendeine verwahrloste Band...200! 200 müssen es sein. Eigentlich ja eher 250. Grundgütiger, da fehlt ja immer noch was. Gehen auch 300? Alter, das liest doch kein Mensch. Vor allem, weil ich den ganzen Kladderadatsch nie werde schreiben können, 300 Reviews?! LOL! Also wieder beischneiden, unter Schmerzen und mit einer Überdosis Magentabletten. Das Spiel ging monatelang. Da kann man mal sehen, welche Verwüstungen so eine herbeihalluzinierte Hybris hinterlassen kann. Und gleichzeitig, der Wahrheit sei besonders an dieser Stelle die Ehre gegeben, machte das doch alles einfach unfassbar viel Spaß. Es ist alles wirklich komplett egal und irrelevant und völlig nutzlos aufgeblasen, aber ich kann damit monatelang einen Endorphin-Gangbang von epischen Ausmaßen in Superzeitlupe erleben.
Dabei hilft es freilich, dass wir hier über die neunziger Jahre sprechen, mein Jahrzehnt. Wenn auch der musikalische Urknall zunächst mit Roland Kaiser in den frühen 1980ern initiiert wurde und sich von dort bis zum Ende des Jahrzehnts weiter zu Iron Maiden, Motörhead, Anthrax, Megadeth, Slayer und Venom verästelte, kann ich die Bedeutung der 1990er Jahre auf meine weitere Entwicklung kaum angemessen in Worte fassen. Das beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf die Musik, die ich zu jener Zeit hörte, zumal sie so oder so unmöglich aus dem soziopolitischen Strom herauszufiltern wäre, weil alles aus Verbindungen und Abhängigkeiten zueinander existiert. Das formte sowohl den damaligen Zeitgeist als auch die jahrzehntübergreifenden Narrative der Dekade: Anything Goes. Existenzielle Freiheit. Minimalismus. Bewusstheit. Aufbruch. Und das hatte Auswirkungen. 1993, ich war noch 15 Jahre alt, outeten sich fünf meiner Freunde als schwul. Sie hatten allesamt das verbindende Gefühl, dass die Akzeptanz ihres Umfelds größer war als zuvor, dass es sicherer war, sich selbst und -bewusst zu leben. Das war keine Selbstverständlichkeit. Und ich wuchs in den kommenden Jahren mit ihnen auf. Wir sprachen darüber, was ihre Sexualität für sie und ihre Familien bedeutet, über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, auch ihr Liebesleben. Ich ging mit ihnen zu schwulen Kneipenabenden im Frankfurts Regenbogenviertel. Das war qualitätsstiftend, weil es etwas in eine Erfahrung übersetze, die es zuvor in meinem Leben nicht gab. Roger Willemsen sagte mal, dass "wir uns gesellschaftlich glaube ich einig sind, dass Vorurteile immer nur dort entstehen können, wo Anschauung fehlt. Je mehr wir Anschauung erweitern und vertiefen, um so weniger wird es möglich, sich zu befeinden oder von etwas abzugrenzen." Es öffnete meine Welt.
Die Musik der Neunziger war für all das der Soundtrack und zugleich der Fixpunkt, sie gab Orientierung und Bestätigung. Am wichtigsten von all dem: ich identifizierte ich mich mit ihr, mit ihrer Ästhetik, ihrer Ideologie und ihrer Überzeugung. Das bedeutete auch, an dem selbst ohne den heutigen Wahnsinn von Social Media ordentlich aufgepeitschten Konflikt zwischen den Anhängern der "alten" Musik und des "modernen" Alternative Rocks nicht teilzunehmen. Ich hörte Morbid Angel und Alice In Chains, Great White und Soundgarden, Nirvana und Dark Angel. Ich kaufte mir im Jahr 1993 das Comebackalbum von Grave Digger "The Reaper" und das Debut der Stone Temple Pilots. Ich ging zu Benediction und Atheist ins Frankfurter Negativ und sah Bad Religion in der völlig (VÖLLIG!) austickenden Hugenottenhalle in Neu-Isenburg. Auf der Hinfahrt hörte ich "Superjudge" von Monster Magnet und anschließend "Definitely Maybe" von Oasis. Ich hörte Pulp und anschließend Metal Church. Didn't give a flying fuck. Auch das war identitätsstiftend, und ging damit sogar über die eigentliche Musik hinaus.
In jenem Geiste verfuhr ich folgerichtig auch für die Auswahl der 200 besten Platten der 1990er Jahre, denn in welchem auch sonst? Ich bin kein Musikmagazin, ich muss weder ein möglich breites Spektrum von Stilrichtungen, noch die Gefühle der Leserschaft berücksichtigen. Das wird ein monatelanger Ego-Wank über meine ganz persönlichen Lieblingsplatten.
Und ich freue, mich, wenn Sie, werte Leserin, werter Leser, mir dabei zugucken. Sie Ferkel*in.
Ich wünsche uns allen ein extradick ausgepolstertes Durchhaltevermögen und eisgekühlte Nervenstränge.
"I dream of beheadings and goose-feather bedding on fire" (Nailah Hunter)
Als vor vier Jahren die Debut-EP "Spells" der Harfenistin Nailah Hunter erschien, kam ich über verschlungene Pfade zum Plattensammlerportal Discogs, oder präziser: zu einer Rezension über "Spells", die sich ausnahmsweise mal nicht mit der Qualität der Vinylpressung, sondern tatsächlich mit der Musik auseinandersetzte. Ein Satz aus dieser Rezension lautete:
"Like taking acid and going to Rivendell."
Ich möchte offen sprechen: danach musste ich nicht mal mehr eine Reinhörvorrichtung bemühen, um die Platte umgehend in mein Warenkörbchen zu legen. Alleine ob der vagen Aussicht darauf, das Debut dieser US-amerikanischen Allrounderin könnte auch nur entfernt so klingen, wie es dieser eine Satz versprach, war also bereits ein veritabler Kontrollverlust einzukalkulieren. Aber es wurde sogar noch besser, als das Versprechen tatsächlich eingelöst wurde. Welch Raffinesse in der Gestaltung. Welch Gespür für die Instrumentierung. Außerweltlich. Außerkörperlich. Erneuerung. Expansion. Eine Platte wie ein Märchen aus einem verzauberten Wald, in dem alles Stoffliche zum Leben erwacht. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Eine fantastische Reise. Man reiche mir bitte die Pappen.
Drei Jahre später, Hunter ist mittlerweile zum Label Fat Possum Records gewechselt und hat die EP "Quietude" und einige Singles ihrer Diskografie hinzugefügt, erscheint ihr Albumdebut "Lovegaze" - und ich bin noch immer fasziniert von dieser Musik. Einiges wirkt aufgeräumter, im Sinne von klarer, als noch auf "Spells", vor allem hinsichtlich der sich deutlicher abzeichnenden Pop-Umrisse. Der vor diesem Hintergrund durchaus geschickt gewählte Einstieg mit "Sweet Delights" überrascht dann sogleich mit vollmundigem Pop- und Jazz-Appeal und erleichtert das Eintauchen in diese Platte. Denn, soviel sei gesagt: so geht's nicht unbedingt durchgängig weiter. Von weiteren Ausnahmen wie dem Titelsong oder "Garden" abgesehen, die melodisch greifbarer sind, baut Hunter ihre Kompositionen mit Hilfe komplexer und zugleich flüchtiger Arrangements, die der geheimnisvollen Ausstrahlung ihrer Musik stets weitere Ebenen hinzufügen. In "Through The Din" lamentiert Hunters entrückt wirkende Stimme über Trip Hop-Ruinen durch den Märchenwald, "Finding Mirrors" weckt mit schwüler LA-Hitze aufgeladenem Post-Soul Erinnerungen an das immer noch fantastische Debut von INC, während Songs wie "Cloudbreath" - ein völlig durchlässiges und schwereloses Ambient-Instrumental - oder "000" sich so weit draußen in den Obertönen bewegen, dass sie nur schwer zu erfassen sind. Das ist der Plan: die Zwischenwelten besetzen und niemals die Schwingung unterbrechen. Mir scheinen hier speziell Hunters Gesangslinien von großer Bedeutung zu sein, operieren sie doch besonders in den experimentellen Stückes des Albums nicht selten im Verborgenen. Sie erwecken den Anschein, als seien sie just in den Momenten erfunden worden, in denen die Musikerin sich zunächst in Trance versetzte, bevor Produzentin Cicely Goulder den Aufnahmeknopf drückte. So unmittelbar wie vergänglich. Eigentlich weiß man nie so recht, was man gerade gehört hat. Aber je tiefer sich die Verbindung zwischen "Lovegaze" und der eigenen Realität ins Bewusstsein eingräbt, desto stärker lichtet sich die Konsternation.
Wir kommen schon wieder einfach nicht drum herum - wir brauchen Zeit. Und Geduld. Und vielleicht am Wichtigsten: Gefühl.
"Ich esse überhaupt nur noch, um danach mit umso größerem Vergnügen rauchen zu können."
(Thomas Mann)
Am Ufer eines Sees. Eingebettet zwischen Bergen, deren schneebedeckte Gipfel sich im Wasser spiegeln. Stille. Windstille. Stillleben. Auf dem Wasser: keine Konturen, keine Bewegung, kein Wellchen. Fast ein wenig surreal. Hat jemand den Pauseknopf gedrückt, oder buffert mein Gehirn noch die Eindrücke? Give me something to cling to.
Der Stein trifft die Wasseroberfläche. Rasch breiten sich die Wellen über die gesamte Oberfläche aus. Sehr schnell direkt um die Eintrittsstelle, mit langsamer werdendem Tempo je weiter sie sich in die Tiefe des Wassers graben. Und in die Breite. Fokus. Nicht blinzeln. Wir suchen das Bild im Bild. Dimensionen-Bingo im Schatten des Großglockners. Ayahuasca, DMT - olé, olé.
Im peripheren Sichtfeld ist nun alles vor uns liegende in sanfter Bewegung. Ein zartes Schaukeln überall, in vollem Einklang mit der Umgebung. Mehr noch: es schluckt die Umgebung, es macht sie ganz. Und es wird damit so offensichtlich, dass erst die von der Erschütterung ausgelöste Schwingung das zusammenfügen kann, was durch die Unbeweglichkeit, die Starre nicht zusammenfinden konnte. Erst jetzt sind sie zu erkennen, die feinen Details, die tieferen Ebenen, die subtilen Turbulenzen - aber auch die Unberührtheiten. Was ehemals Alles und gleichzeitig Nichts war, weil das eingefrorene Bild auf der großen Leinwand keinerlei Impuls zur Durchlässigkeit preisgab, erleben wir nun Entfaltung und Verdichtung durch Bewegung und Überwindung.
Das zweite Album der britischen Musikerin, Produzentin, Multi-Instrumentalistin Nala Sinephro heißt "Endlessness". Zehn Titel, allesamt unter dem Namen "Continuum" durchnummeriert. Der Stein fällt zur Sekunde 1 ins Wasser und möglicherweise endet die Schwingung mit dem atemberaubenden Crescendo im abschließenden "Continuum 10", möglicherweise endet sie aber auch in der Unendlichkeit. Das große Ensemble, das "Endlessness" stets auch über das triviale Ende des Werks hinaus in der Bewegung hält, unter anderem mit der Saxofonistin Nubya Garcia, dem Schlagzeuger Morgan Simpson (u.a. bei Black Midi), Ezra Collectives James Mollison, Lyle Barton am Piano, Sheila Maurice-Grey am Flügelhorn, Natcyet Wakili, Dwayne Kilvington und dem 21-köpfigen Streichorchester Orchestrate, definiert stets nur den Auftakt, niemals das Ende. So gesehen besteht "Endlessness" auch lediglich aus Ursprüngen, aus immer neu erkannten und aufgenommenen Ideen und Impulsen, die stets die kreative Stunde Null wiedergeben und sich ununterbrochen in die Breite verästeln. Beinahe fühlt es sich so an, als müsse man sich wegen des unwiderstehlichen Sogs selbst mitverästeln. Die Natur der Dinge.
Alles hört irgendwann einmal auf zu existieren. Aber Nichts hat ein Ende.
“We are all connected; To each other, biologically. To the earth, chemically. To the rest of the universe atomically.” (Neil DeGrasse Tyson)
Ich bin geneigt, an dieser Stelle von einem "brandheißen Tipp" für alle Ambient-Jünger*innen zu schreiben, aber so brandheiß ist diese im vergangenen Sommer erschienene Platte im Frühling 2025 dann leider auch nicht mehr. Und ich bitte davon abzusehen, mir die zwar berechtigte Frage zu stellen, warum "Beyond A Moonless Night" denn nicht in meiner Top 20 auftauchte, weil ich außer der Feststellung, dass die Konkurrenz nun wirklich groß war, keine passende Antwort ausformuliert habe.
Inhmost's Simon Huxtable ist auf 3,40qm kein Unbekannter mehr, hatte ich hier doch schon mehrfach auf das außergewöhnliche Talent des britischen Produzenten hingewiesen. Der aus Belgien stammende Pierre Nesi aka Owl kam mir erstmals mit seinem 2021 auf Silent Season erschienene Album "Infinite Horizon" aufs Radar. Die Wege der Herren kreuzten sich in den letzten Jahren unter anderem über Veröffentlichungen auf den Labels re:st und Huinali. "Beyond A Moonless Night" ist die erst Zusammenarbeit der beiden Musiker.
Ich möchte heute auf dieses kleine Juwel hinweisen, nicht zuletzt deshalb, weil ich die Befürchtung habe, hier könnte ein bemerkenswertes Album in der Flut von Veröffentlichungen schlicht untergehen. Wie eingangs ausgeführt, weiß ich leider, wovon ich spreche. Der US-Amerikanische Musikkritiker Anthony Fantano berichtete vor wenigen Monaten, dass an einem Tag des Jahres 2024 soviel Musik veröffentlicht wurde wie im ganzen Jahr 1989. Welche Auswirkungen die schiere Menge an neuer Musik in Verbindung mit den programmierten Algorithmen sozialer Medien, einer gesunkenen Aufmerksamkeitsspanne und veränderten Lebensrealitäten der Zielgruppe auf Aspekte wie Vermittlung und Einordnung, also auf den generellen Diskurs haben, sehen wir seit einigen Jahren in der immer weiter voranschreitenden Auflösung von ehemals etablierten Medien und Plattformen und damit letzten Endes Diskursräumen, sowie gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Standards. Ich bin beispielsweise immer (noch) überrascht, wenn die eigene Recherche zu Musikern und ihren Werken mittlerweile in den meisten Fällen auf den Seiten von Mailorderplattformen endet, stets lediglich kombiniert mit den übernommenen Promotexten der Plattenfirmen. Das ist oft diktiert von den jeweiligen Genres; über das letzte Album von The Cure schreibt natürlich immer noch jede*r, auch mit der Gewissheit, dass die Texte wenn schon nicht gelesen, dann immerhin angeklickt werden. Über Ambientproduktionen gleichermaßen zu lesen und zu schreiben kann hingegen ein bisschen einsam machen.
Nun ist Einsamkeit ja traditionell eines der großen Markenzeichen auf 3,40qm, und auch das verraten mir sowohl die Zugriffszahlen als auch meine Postingfrequenz auf diesem seit 18 Jahren existierenden Blog, und ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass zwischen diesen beiden Messgrößen ein kausaler Zusammenhang besteht. Neben den viel zu langen, ungelenk formulierten, mit diskussionswürdigem Humor und permanenter Überwärmung versehenen Texten und ihren stilistischen Katastrophen, versteht sich. Und bevor uns allen, und ganz besonders mir, jeden Moment die Tränen in die Augen schießen, lassen Sie mich noch schnell einige Worte zu "Beyond A Moonless Night" verlieren.
Was sich auf diesem Album bereits gleich zu Beginn offenbart, ist der außergewöhnlich immersive Klang dieser Aufnahme. Das ist der erste Anker, den "Beyond A Moonless Night" setzt. Das Eintauchen in dieses Universum ist unmittelbar. Es ist warm und weich, dabei kristallklar und durchlässig. Die sich überlagernden Schichten ihrer Musik öffnen unentwegt neue Räume für Visionen. Ich habe bei der Auseinandersetzung bemerkt, dass die Platte sich ganz hervorragend für die Momente des Zwielichts eignet, für die Augenblicke zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Bewusstheit und Intuition. Ich sehe große Vogelschwärme, die in der Dämmerung wie von einer unsichtbaren Entität geführt in Bruchteilen von Sekunden Flugrichtungen wechseln, ich sehe sich in einer sanften Brise wiegenden Palmen, ich spüre die Verbindung und das Miteinander. In "Dusk Settled Over The Mountains" stehe ich mit Lisa Gerrard und Brendan Perry in einer gotischen Kathedrale auf dem Saturn. Das kann eine außerordentlich befreiende, angstlösende Wirkung haben. Dabei hilft es, dass Inhmost und Owl sich viel Zeit für die Entwicklung ihrer Ideen lassen und die Musik behutsam expandieren, ohne dafür die Struktur zu opfern. Hier fließt nichts in Ungewisse, weil jede Bewegung Richtung und Bestimmung hat.
“Consensus Programming is dangerous to your health. The brainwashed do not know they are being brainwashed.” (Wendy O'Williams)
Es lebt etwas ungemein Anziehendes in dieser Musik. In den vergangenen vier Monaten kam mir keine andere Platte so oft auf den Plattenspieler wie "Dark Portrait" und es hatte bisweilen den Anschein, als könne die Platte zunächst mein Innenleben scannen und anschließend die aufgenommenen Schwingungen ganz selbstverständlich in genau die Töne umwandeln, die mein System gerade benötigte. Du findest diese Platte nicht, sie findet Dich.
Und das tut sie mit Präzision. Was umso erstaunlicher ist, denn hier ist zunächst mal fast alles Vibe, alles Schwebung. In die Aura getupft, hintergründig, in sich versunken. Vernebelte Zeitlupensounds im Teilchenbeschleuniger. Bereits im somnabulen Eröffnungsstück "Unsuitable" wird mit dem Kontrast zwischen kargen Trip Hop-Reflexen in Verbindung mit dem Selbstzweifel in Text und Stimme erstmals die Indifferenz deutlich, die sich durch das gesamte Album zieht. "I was just trying to accept that I'm not a good person towards everyone all the time" sagt Soela im Interview mit Bruce Tantum (DJ Mag). "I'm somtimes not even a good person to myself."
Und selbst die lebhaften Momente wie in "Through The Windows" oder die Kollaboration mit Dial-Gründer Lawrence in "February Is Not Going To Be Forever", in denen die Beats mehr Raum einnehmen und die Energie in Richtung Tanzfläche ziehen, sind niemals gerade, sondern stets gebrochen vom emotionalen Treibholz, sie halten inne und schauen sich um. Alles geht nach innen - und über jene Einkehr werden die Brücken zum sinistren Grundrauschen gebaut, das ständig in uns allen zu hören ist. Wir spüren, dass wir uns fallen lassen können in diesen tiefen, melancholischen Strudel. Mit Grundvertrauen.
"Dark Portrait" ist der elegische Blick über nächtliches Großstadtgeflacker und gleichzeitig mystischer Ambientnebel auf einer Waldlichtung. Der Soundtrack für die schier endlose Suche nach dem innersten Kern des Lebens. Wer wir waren - und wer wir sind. Und, vielleicht noch wichtiger, wer wir sein wollen.
Erschienen auf Scissor & Thread, 2024.
Über Soelas Albumdebut "Genuine Silk" berichteten wir bereits HIER.
"Matt and Alex especially want to thank Bryan for his love, encouragement, friendship, excitement, and passion. This recording is dedicated to his life and memory. We will miss him forever." (Amblare)
RIP Bryan St. Pere
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Das könnte die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Die Sache ist nämlich wirklich schreiend einfach: Du magst eine (!) der folgenden Bands, und Du wirst "Amblare" lieben. Das ist die Dreikommaviernull-Zufriedenheitsgarantie im Best Practice und Service Excellence Cluster.
A Perfect Circle, Hum, The Life And Times, Helmet, Failure, Shiner.
Jep, eine reicht.
Vielen Dank, Merci Beacoup, Mille Grazie - das war's, schönen Abend noch, hoabe d'Ehre!
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Ich habe gesagt, es "KÖNNTE" die kürzeste Rezension aller Zeiten auf diesem Blog werden. Aber nicht mit mir, Freunde der Sonne!
Alles, was ich da just ins Weltnetz erbrochen habe stimmt freilich, und ich nehme davon auch keine Nanosilbe zurück. Es fehlt allerdings noch eine Kleinigkeit. Denn es wäre nun ebenso freilich ein Leichtes, mir so unschöne Repliken wie "aufgewärmter Kaffee", "nicht gerade originell", "also alles schonmal dagewesen", "wer will denn so 'ne alte Scheiße heute noch hören?" vor die Tür zu karren, und bevor ich den ganzen Plunder mit einem rasenden Raketenfurz von Angus Youngs Gardinenstange in die Luft gehen lasse, sei noch eine Frage erlaubt: was ist denn an aufgewärmten Kaffee auszusetzen? Hm? Schön in den Edelstahlkochtopf, bisschen Ziegenkäse, bisschen Melasse, bisschen Bärlauch, schnell aufkochen lassen und dann ab damit ins Klo, aber Vorsicht: es könnte das Porzellan angreifen! Huch, ich bin im Rezept verrutscht, KEINE MELASSE, das versaut einem echt alles. Senf! Senf muss rein!
"Amblare" wurde von den drei Musikern Matt McGuyer (u.a. bei Mock Orange), Alex Wallwork von den Stonern Faerie Ring und Bryan St.Pere der 90er-Alterna-Stars HUM (pun intended!) erdacht und wird jedem Kind der Neunziger die Freudentränen in die Augen treiben. Emotional, melancholisch, drückend, zerbrechlich, heavy, deep, groovend, dazu mit einer gewissen Nerdigkeit, die bionatürlich jedes Klischee draußen vor der Tür lässt. Breaks, die einen Quantum Break verursachen können. Gitarren, die untenrum ganze Planeten wegschieben und obenrum Glühwürmchen im Weltall unsittlich berühren. Ein Schlagzeuger, der mit Ambossen auf die Kessel drischt. Eine an das letzte Hum-Meisterwerk "Inlet" erinnernde Produktion, was wenig Raum für Überraschungen lässt, wenn der Mann an den Reglern Matt Talbott heißt und bei Hum die Gitarre bedient und am Mikrofon steht - ein außergewöhnliches Gespür für Raum und Tiefe, für spaciges Geflacker und gleichzeitig für die Verdichtung von Sound und Vision. Wenn's einen Beweis benötigt: ich habe keine Vorstellung davon, wem bei einem absoluten Monstrum wie "Mine'd" nicht die Knie weich werden würden.
Und wo ich jetzt schon einen Titel explizit erwähnte, muss ich zwangsläufig auf den zweiten Smash-Hit dieses Albums hinweisen, genau genommen ist es DER Hit, der in anderen Zeiten Leben verändern könnte: "Underest" hat alles für die Tanzfläche und alles fürs Gefühl, eine Hymne für Generationen. Warum hört hier keiner zu? Warum läuft das so komplett unter jedem Radar? Warum ist Rockmusik so kolossal am Arsch?
Nun, darum: Die Herzallerliebste und meine Wenigkeit wohnten die Tage einer Nirvana Tribute-Party in einer Frankfurter Diskothek bei, Todestag und Tralala, Untertitel "Hardcore, Garage, Grunge". Ich wiederhole das besser nochmal: eine Nirvana Tribute-Party mit dem Untertitel: "Hardcore, Garage, Grunge". Unendliche Möglichkeiten, einen fantastischen Abend zu haben. Ein ganzes Jahrzehnt vollgestopft mit der besten Musik der Welt zur Auswahl. Ich könnte - Uhrenvergleich: JETZT - mit dem Aufzählen von Songs und Bands und Alben in den Sektoren "Hardcore, Garage, Grunge" beginnen und wenn Du mich in 72 Stunden wieder siehst, werde ich immer noch nicht damit aufgehört haben. Right? Right!
Was stattdessen passierte: Der DJ ballerte zur besten Sendezeit gegen halb eins die neunminütige (!) Guns'n'Roses-Saftgranate "Estranged" auf eine leere Tanzfläche. Für volle neun Minuten. N-E-U-N.
"Most of us will reach a certain point in our living where if we can't figure out how and where to place our nostalgia it will completely overwhelm us." (Renee Gladman)
NOSTALGIE
Substantiv, feminin [die]
vom Unbehagen an der Gegenwart ausgelöste, von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert, deren Mode, Kunst, Musik o. Ä. man wieder belebt
Der dritte und letzte Teil der Wardown-Trilogie des britischen Produzenten Pete Rogers erschien Mitte Dezember des vergangenen Jahres und kam mir damit für die offizielle Bestenliste leider zu spät auf den Plattenteller. Die beiden Vorgänger I und II zählen für mich zu den beeindruckendsten Elektronik-Alben der letzten fünf Jahre. Zum einen, weil die hier behandelten Themen der "Sehnsucht", ein Begriff, den Rogers in Interviews oftmals explizit auf Deutsch verwendet, weil die englische Sprache keine adäquate Übersetzung vorhält, sich bis in die hintersten Ecken meiner eigenen Echokammer ausbreiten konnten und dort sofort Verbindung mit mir aufnahmen. Zum anderen, weil die gesamte Ästhetik, von den Cover-Artworks bis hin zu den ausgewählten Sounds für diesen Ambient- und Drum 'n' Bass-Hybriden, sein Storytelling so überzeugend und transparent machte. Ich verstand damit tief im Innern, was Rogers mit diesen Projekten aussagen wollte, und je älter ich werde und je klarer sich damit das Sentiment der Nostalgie auch in mir selbst zeigt, desto größer wird die Anziehung, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Das war und ist erstens nicht immer angenehm - das eigene Spiegelbild zeigt bei entsprechenden Lichtverhältnissen und Perspektiven leider nur zu ungnädig auch jene Bereiche, die man am liebsten gar vor sich selbst versteckt hält, ganz zu schweigen von der Außenwelt. Was sagt es über mich, wenn die Gegenwart offenbar so unerträglich scheint, dass selbst die Reise ins bereits Ge- und Erlebte, ins Vergilbte, Ausgegraute und Vergangene mehr Attraktion verspricht, mehr Reizpunkte triggert und gleichzeitig paradoxerweise als stark wirkendes Sedativum Einsatz findet? Es zeigt mir zweitens auch, wie flüchtig diese Empfindungen tatsächlich sind. Sie offenbaren sich im Grunde fast immer nur als diffuses Grundrauschen, das sich einer konzentrierten Anschauung stets in dem Moment entzieht, in dem eine Struktur oder ein Muster vergrößert werden will. Rogers beschreibt dieses Phänomen in seinem lesenswerten Interview mit Ryan Griffin von A Strangely Isolated Place wie folgt:
"But it’s a very hard thing to accurately pin down and describe. I sometimes feel as though to get a sense of it I have to look out of the corner of my eye, as when I try and focus directly on it, it disappears. It’s often a very fleeting feeling brought on by certain scenes in the world, weather, photographs, old films. A kind of bittersweet, melancholy feeling about the past and things that have been lost. But quite often it’s a longing for things I’ve never personally experienced or may never have even happened."
Wardown III erscheint mir im Vergleich mit den beiden Vorgängern etwas schwieriger zu dechiffrieren zu sein. Blickte Rogers auf dem Debut in seine eigene Vergangenheit zurück und vertonte weichgezeichnete Kindheitserinnerungen mit bittersüßem Schmelz, beschrieb er für "II" die Zukunft aus der Perspektive früherer Generationen und stellte damit eine Form der Nostalgie in den Mittelpunkt, die als seitenverkehrtes Negativ die unbekümmerte Naivität und Euphorie aus der Vergangenheit mit einer trostlosen Gegenwartsanschauung verknüpfte, in der all die hoffnungsvollen Visionen als unerreichbare Utopien, als Fiktion entlarvt wurden. Für "III" zeichnet es sich hingegen ab, als sei Rogers nun endgültig auf der Rückseite einer Landschaft angekommen. Die Stimmung ist trüber als zuvor, so als wäre man von der Erkenntnis überrannt worden, dass der zweite Teil des Wortes "Sehnsucht" der eigentliche Bedeutungsvektor ist: eine Sucht. Eine Flucht. Ein Eskapismus. Vielleicht auch eine Überlebensstrategie; der letzte Strohhalm, an den sich geklammert wird, weil die Kälte und Gleichgültigkeit der Gegenwart mit der Erinnerung an eine Vergangenheit kollidiert, in der Bedeutung und Bestimmung die zumindest virtuellen Grenzen der Zielkorridors waren. "Everything has their cycle. They have their beginning, they have their end." heißt es in "39 to Beam Up". Und anschließend, über unheilbeschwörendes Sirenengeheul: "Planet Earth. About to be recycled. Your only chance to evacuate is to leave...with us."
Der Klappentext zu "III" liefert zusätzlich zwei Zitate als potentielle Leuchtfeuer.
Nummer eins stammt aus dem Buch "The Ruins Of Nostalgia" der Autorin Donna Stonecipher aus dem Jahr 2024:
"We felt like nostalgic futurists, one half of our bodies aimed with hope at the prospect of future utopias, one half aimed with dread at the prospect of future utopias, torquing ever backward at an inexorably receding past"
Nummer zwei wurde dem im Jahr 1975 erschienenen Buch "Light Years" des US-amerikanischen Schriftstellers James Salter entnommen:
“We’re entering the underground river,” she said. “Do you know what I mean?”
“Yes, I know.”
“It’s ahead of us. All I can tell you is, not even courage will help..."
Mir erscheint vor allem der Verweis auf "Light Years" zentral für die Entschlüsselung zu sein. Salters Roman beschreibt vordergründig den langsamen Zerfall einer Ehe und erzählt von einem scheinbar perfekten und idyllischen Leben einer Familie im Osten Amerikas, über das sich über die Jahre flächendeckend Risse ausbreiten, das sich entzweit und immer weiter in Kleinpartikel zerstreut bis hin zur schlussendlichen Auflösung und Auslöschung. Die Unterströmung von "Light Years" hinterfragt hingegen jene Aspekte unseres Lebens, den wir als essentiell an- und hinnehmen, denen wir eine oberflächliche Relevanz beimessen, ohne die eigentliche Tragweite ihrer existenziellen Bedeutung erfassen zu können. Deren Gewicht bestimmt ist von performativem Verhalten, von falscher Loyalität, vom Festhalten am Status Quo. Und deren Betrachtung letzten Endes von Zukunftsängsten und von der oft so tiefsitzenden Furcht von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bestimmt ist.
Ich empfinde das Eintauchen in die Themenwelt der Wardown-Alben als großes Glück. Es fordert mich heraus. Es provoziert mich. Gleichzeitig gibt es mir einen Anker zur Reflektion und einen Ausblick darauf, wie ich leben möchte.
Und wer sich jetzt fragt, ob's denn nicht auch eine Nummer kleiner ginge...?!
CHELSEA WOLFE - SHE REACHES OUT TO SHE REACHES OUT TO SHE
"I wish I could be invisible and just play music and not have to worry about anyone looking at me." (Chelsea Wolfe)
Die Platte des Jahres kommt von einer Künstlerin, deren frühere Arbeiten ich ganz offensichtlich auf eine beinahe schon groteske Art fehleinschätzte, und die deswegen in all den Jahren keinen Fuß in die Tür zur Casa Dreikommaviernull bekam. Ich habe das schon öfter betont, wie komplett irre so eine intellektuelle Generalverriegelung sein kann, wenn also irgendwas zwickt, irgendwas verzerrt ist - und sei's nur die eigene Wahrnehmung. Andererseits passiert sowas eben manchmal. Und dann hole ich das große Feigenblatt raus und sage: es gibt für alles den richtigen Moment, die richtige Zeit, den richtigen Ort. Musik findet Dich einfach, wenn es soweit ist.
Im Falle von Chelsea Wolfe war das Wirken der in Kalifornien lebenden Musikerin stets in erster Linie mit ihren Kollaborationen mit den Hardcore-Superstars von Converge verbunden. Und so gerne ich mir von Zeit zu Zeit mit Geschrei und Gebrüll das Kleinhirn auf halbacht fönen lasse, kam ich an Converge nie ran, nichtmal in die Nähe. Und wenn ich mich mal dazu entschlossen habe, Abstand zu halten, dann bin ich wenigstens in dieser Hinsicht so richtig behämmert deutsch und also konsequent. Aus Gründen, die ich mir heute nicht mehr selbst erklären kann, halluzinierte ich also eine stilistische Nähe zwischen Converge und ihrer eigenen Musik herbei, was dazu führte, Chelseas Soloscheiben schlicht zu ignorieren. Weil eine Mauer alleine ja nicht ausreicht, wird eben selbst der ganze Dunstkreis ausgesperrt. Was soll ich sagen?!
Als im Februar des vergangenen Jahres "She Reaches Out To She Reaches Out To She" angekündigt wurde, und die ersten Berichte elektronische, trip-hoppige, sogar in den Bereich von Drum'n'Bass reichende Einflüsse erwähnten, wurde ich allerdings hellhörig. Und schon beim Erstkontakt mit "House Of Self-Undoing" war ich hoffnungslos verloren. Die Folgen: die gesamte Diskografie wurde nachgekauft, wir besuchten ihr Gastspiel in der Kölner Kantine, die Herzallerliebste reiste sogar nochmal solo zum Konzert nach München, und meine allerliebsten Lieblingsleserinnen und -leser quälen sich gerade durch die Rezension zu meiner Lieblingsplatte des Jahres 2024.
Zusammen mit dem Produzenten Dave Sitek betreten Wolfe und ihre Band im Vergleich zu ihren früheren Werken auf mehreren Ebenen Neuland. Aus technischer Sicht war die Industrialästhetik zwar auch schon auf einem Album wie beispielsweise "Abyss" (2015) wahrnehmbar, durch den neu gesetzten Schwerpunkt auf elektronische Elemente wirken einerseits Songs wie der irrlichtende Opener "Whisper In The Echo Chamber" oder das experimentelle "Eyes Like Nightshade" noch abrasiver als zuvor. Das mit Breakbeat-Elementen spielende "House Of Self-Undoing", dessen hypnotische Ästhetik bisweilen sogar an Siteks Band TV On The Radio erinnert und clever die ganze Dynamikklaviatur aus Härte und bohrenden Ambientdrones bespielt, ist trotz stilistischer Öffnung auch noch recht gut zu entschlüsseln. Aber dann wird die Sache komplizierter zu erläutern, wenn man nicht in Allerweltsgefasel abrutschen will.
Für meinen Geschmack ist es vor allem die zweite Hälfte des Albums, auf der die visionäre, stilprägende Kraft dieser Produktion klar wird. Im Grunde sind Songs wie "The Liminal", "Salt", "Place In The Sun" oder ganz besonders "Dusk" dunkle Popsongs, die problemlos auch in einem akustischen, eher Folk-betonten Kontext funktionieren würden, durch die elektronische Ausrichtung aber plötzlich die Tore zu neuen Welten aufstoßen. Die verrauchten Trip Hop Beats, die gebrochenen Akzente vom Geflacker eines Pianos, die inszenierte Tiefe und Weite machen die Musik dunkler, bedrohlicher, mystischer, außerweltlicher. Paradoxerweise dehnt sie sich in dieser atmosphärischen Verdichtung weiter aus und macht Räume frei für Anschauung. Das Arrangement von Chelseas Stimme spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle, sie ist das vermittelnde Element zwischen Anziehung und Abstoßung, Licht und Schatten. Sie ist stets im Vordergrund und dirigiert durch das Dickicht, tatsächlich macht sie jene Räume erst wahrnehmbar. Und gleichzeitig spürt man: dieser Raum ist Unendlichkeit. Dieser Raum ist Heilung. Dieser Raum ist kein Raum. Er ist Leben.
"Immer weiter abgeschwiffen. Alles schrumpft. Stetig." (Antitainment)
Jetzt haben sie mich endlich doch noch gekriegt.
Ihr Auftritt auf dem Rockhard-Festival 2018, der vom WDR Rockpalast mitgeschnitten wurde und HIER auf Youtube verfügbar ist, war mein Erstkontakt mit diesem Quintett aus Rotterdam. Und ich war beeindruckt, vor allem davon, wie geil die alle auf der Bühne aussahen. Outfits, Bewegungen und Attitüde schienen zwar durchaus choreografiert, wovon die Authentizität jedoch keinen Kratzer abbekam. Die Band platzt vor Selbstbewusstsein und spielt mit einer Überzeugung, als hänge ihr Leben von jedem gespielten Ton ab. Damit bekommt man mich immer an den Haken. Und mit diesem etwas vernebelt wirkenden progressiv-verschnörkelten Doomrock dann eben irgendwie auch.
Auf ihrem Debut "Here Now, There Then" konnte ich von dieser Magie leider nur noch wenig spüren. Auch Dool kämpften offensichtlich seinerzeit damit, das Durchsetzungsvermögen von der Bühne ins Studio zu rollen. Als 2021 der Nachfolger "Summerland" erschien, und ich immer noch keinerlei Verbindung zu ihren Studioalben aufbauen konnte, strich ich die Segel. Sowas gibt's eben manchmal, aber im Falle Dool war das schon ein bisschen tragisch. Ich gebe zu, dass ich ab der ersten Minute des Rockhard Mitschnitts fasziniert war von der Band. Dass es musikalisch zunächst nicht funken wollte, nagte ein bisschen an mir. Ich wollte die doch gut finden?!
Mit "The Shape Of Fluidity" änderte sich das alles.
Die Eindringlichkeit, der Drang, der "Pull" des Openers "Venus In Flames" steht exemplarisch für das ganze Album, gerät der Einstieg in den siebenminütigen Song doch zu einem der unwiderstehlichsten Momente der Rockmusik der letzten 25 Jahre. Der Drive mit seiner derart viehischen und nach vorne peitschenden Urgewalt nach dem kurzen Intro lässt Dich durch fucking Panzerglas marschieren, bevor der praktisch ansatzlos aufs Spielfeld geworfene Refrain trotz seiner melodischen Öffnung die Intensität unglaublicherweise noch weiter nach oben schraubt. Eine kleine Erlösung erlebt man erst zur Songmitte, wenn sich sowohl die Wucht als auch das Tempo etwas einbremsen und sich gemeinsam auf das große, hymnische Finale vorbereiten, das mit großer erzählerischer Raffinesse inszeniert wird: atmosphärisch stehen wir am Ende der Geschichte, am Ziel einer langen und beschwerlichen Reise. Wir sind angekommen. Wir können durchatmen. Emotional hingegen fühlen wir die Spannung, die Friktion. Es fühlt sich paradoxerweise nach Aufbruch an, nach Öffnung, vielleicht ist sogar ein wenig provozierend.
Kompositorisch ist Dools Musik nicht gerade unterkomplex, das war sie noch nie. Ein paar Schlenker muss man also schon mit ihnen mitlaufen, um nicht abgehängt zu werden. Aber sie können es sich aus gleich zwei Gründen leisten. Erstens spielen hier technisch herausragende Musiker, die stets in der Lage sind, die Metaphorik von Ravens Texten für die große Bühne musikalisch zu inszenieren und sie sicher durch sämtliche emotionale Aggregatzustände zu leiten. Zweitens sind die Songs auf "The Shape Of Fluidity" mit Hooklines geradewegs übersäht. Das hilft zunächst bei der Orientierung, bevor darüber hinaus erkennbar wird, wie vielschichtig diese Kompositionen tatsächlich sind; so als würden erst die hymnischen und verschwenderisch arrangierten Melodien die Türen in die unterirdischen Labyrinthe des Albums öffnen.
Der/Die über allem thronende Zeremonienmeister*in ist Raven van Dorst. Im Jahre 1984 intergeschlechtlich geboren und anschließend als Frau aufgewachsen, ist "The Shape Of Fluidity" vor allem textlich eine bis auf die Knochen ehrliche, zu gleichen Teilen niederschmetternde und kraftvolle Erzählung über die Auseinandersetzung darüber, sich über Jahrzehnte in dieser Ausnahmesituation zu befinden. Über die inneren und äußeren Konflikte, über Identität und Isolation. Aber auch über das Erwachen und über die Verantwortung.
"Would you bathe in my love / Now the time has come?" singt Raven in "Venus In Flames" und das Beben, die Sehnsucht - ja, die Erlösung springt mich förmlich an.
Wenn etwas aussieht wie eine Deppenfrage, es sich liest wie eine Deppenfrage und es außerdem nach Deppenfrage schmeckt (Überbacken, 200°C in Backofen), dann ist es eine Deppenfrage mit dem Markus Lanz-Qualitätssiegel:
Sind "wir" eigentlich "noch" in der "Lage", einen "Klassiker" zu "erkennen"?
Der Musik-Kanon im Allgemeinen und der Metal-Kanon im Besonderen sind selbst in den abseitigen Nischen vollgestopft mit Alben, auf die sich die Mehrheit der Szenegänger über die letzten fünf Jahrzehnte in Hinblick auf Parameter wie außergewöhnliche Qualität, dem Willen und Mut zur Innovation und dem wegweisenden Einfluss auf die künftige musikalische Entwicklung einigen konnten, oder weniger hoheitlich formuliert: Alben, die von der Musikjournaille so lange nach oben gejazzt wurden, bis es auch den letzten Neil Dylan-Harrison-Überlebenden, James Hetfield-Yeeeaaah-Yeaaaah-Kuttenjürgens und Eddie Vedders Surflehrern ins kollektive Gedächtnis eingehämmert wurde, was dIe_SzEnE gefälligst für die nächsten Dekaden für einen "Klassiker" halten soll. Seit dem Auftauchen des Bermuda-Dreiecks aus "Musik ist überverfügbar", "Kein Mensch unter 40 liest Musikmagazine" und "Social Media - Der Todesstoß" hat sich DiE_sZeNe allerdings längst in Luft aufgelöst, sieht man von den üblichen ein, zwei gallischen Subkultur-Dörfern ab, in denen aber auch schon länger nicht mehr jeden Abend gemeinsam ums Feuer sitzend Wildschweine gefressen werden, sondern jede*r Wurzelsepp*in mit W-LAN und Shitify-Abo alleine in der frisch geklinkerten Höhle hockt und sich via TikTok das anhört, was man mit einigem Hang zum Absurden als die letzten noch dampfenden Ruinen dessen bezeichnen könnte, was in der Eisenzeit mal unter "Musik" verstanden wurde. Die Gemeinschaft ist am Arsch, liebe Freunde! Und wo die Gemeinschaft am Arsch ist, wird sich auch auf nix mehr geeinigt. Vereinzelung olé! Als ob wir heute noch ein zweites "Reign In Blood" oder "The Number Of The Beast" entdecken könnten, oder auch nur entdecken wollten. Ich beantworte mir die eingangs gestellte Quatschfrage mal flott selbst, sonst gibt's Hirnverknotung mit Sahne: Nein, "wir" "erkennen" keine "Klassiker" mehr.
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Plot-Twit: außer diesem hier, natürlich. Auf "Absolute Elsewhere" konnten sich im letzten Jahr eigentlich alle einigen. Ein Umstand, dem ich üblicherweise mit ausgeprägter Skepsis begegne; man sieht's mir bittschön nach, nicht schon wieder das olle Hildebrandt-Zitat zu bringen. Und wenn dann auch noch die Feuilletons plötzlich aufwachen und ausgerechnet in jenem Genre große Kunst wittern, das traditionell im besten Fall allerhöchstens belächelt wird - und ich füge hinzu: Zurecht! Wenn vor allem der heutige Heavy Metal eines verdient hat, dann dass man sich 24/7 über ihn lustig macht, for fuck's sake - jedenfalls: es wird dann sehr ernst.
Wer die Entwicklung Blood Incantations besonders angesichts des 2019er Albums "Hidden History Of The Human Race" und dem reinen Ambientprojekt "Timewave Zero" begleitet hat, wird von der stilistischen Bandbreite, die "Absolute Elsewhere" abdeckt, eventuell nicht mehr ganz so vehement aus den Schuhen gesprengt werden. Die Band hatte seit jeher ein Faible für Science Fiction in ihren Texten und kosmische Nuancen in ihrer Musik, und präsentierte jene Einflüsse sehr anschaulich in der überaus empfehlenswerten "What's In My Bag"-Folge des in Los Angeles ansässigen Plattenladens Amoeba Music. "We don't play games, man!" sagte Sänger und Gitarrist Paul Riedl zur Veröffentlichung des kontrovers diskutierten "Timewave Zero" Werks - und um das Zitat im Jahr 2024 weiterzuführen, könnte man im Zuge von "Absolute Elsewhere" ein "Now it's getting serious." hinzufügen.
Die Band hat für das in der Berliner Hansa Studios aufgenommene aktuelle Album in jeder Hinsicht alles aus sich herausgeholt. In knapp 44 Minuten und zwei Songs, die in jeweils drei sogenannte Tablets unterteilt sind, sprengen Blood Incantation im Prinzip ein ganzes Genre in die Luft. Wir sitzen auf den Trümmern und fliegen mit diesen vier Irren ins Weltall - man verzeiht mir bitte die abgeschmackte Metapher, aber sorry: sie haben's ja auch irgendwie provoziert. "Absolute Elsewhere" ist ein fremder, weit entfernter Ort. Death Metal der etwas älteren Schule, von der ehemals Bands wie Morbid Angel, Gorguts und Death in den 1990er Jahren abgingen (ich habe möglicherweise relativ exklusiv die Wahrnehmung, dass insbesondere letztgenannte in jenen Momenten, deren Farbauftrag den klassischen Heavy Metal etwas deutlicher durchscheinen lässt, häufiger als Referenz auftauchen), amalgamiert sich mit den Haschkrümeln, die aus den Zottelbärten Pink Floyds, Tangerine Dreams und King Crimsons herausgepurzelt sind, also kosmischer Musik und Progressive Rock der 1970 Jahre, tippt den Hut in Richtung der wegweisenden Science Fiction Metal-Legende Voivod (The Stargate Tablet III, ab Minute 3:42) und lässt obendrein Tangerine Dreams Thorsten Quaesching auf "The Star „The Stargate [Tablet II]“ sich über ein paar Minuten an der Synthiebatterie austoben. Das Songwriting ist dabei derart raffiniert, dass der Band trotz der beiden überlangen Kompositionen zu keiner Sekunde weder der Spannungsbogen abhanden kommt, noch die eigentlich unmöglich zu meisternden Übergänge zwischen dem Death- und Grind-Gehacke und den außerweltlichen, psychedelischen Klangsphären aus der Pilzpfanne des Druiden Deines Vertrauens misslingen. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel Arbeit in diese 44 Minuten geflossen sein muss, um das so punktgenau in unsere Realität zu bugsieren. Ein Wahnsinn.
Ich darf abschließend anmerken:
Erstens: das Break und dessen Aufbau in "The Stargate [Tablet II]" bei Minute 4:11 gehören zum besten, was ich in 40 Jahren Rockmusik gehört habe.
Zweitens: das Abschlussriff von "The Stargate [Tablet III]" ab Minute 4:59 dampfwalzt mich jedes fucking Mal in Richtung Erdkern. Möchte ich auf Lautsprechern hören, die so groß sind wie die Cheops-Pyramide.
Drittens: was für ein Sound! Was für eine Produktion! Achtung, sprechen Sie mir jetzt laut nach: "WAS FÜR EIN SOUND! WAS FÜR EINE PRODUKTION!"
Viertens: Der Übergang von "The Message [Tablet II]" in das einleitende klassische Speed Metal Riff von "The Message [Tablet III] verursacht schwere Schweißausbrüche. Darf man eigentlich nur unter Aufsicht und nach der Starkstromtherapie hören.
Fünftens: das wird womöglich niemand so recht nachvollziehen können, aber das Ende von "The Stargate" klingt für mich, als wäre eine eben noch heißlaufende und kurz vor der Explosion stehende Höllenmaschine (schlimmer Verdacht: das Stargate?) im allerletzten Moment vor der Vernichtung des Universums mittels Plastik-Kippschalter (Hornbach, 99 cent) ausgeschaltet worden und wäre nun allmählich dabei, zunächst herunterzufahren und anschließend abzukühlen. Die Videosequenzen (siehe unten) verstärken den Eindruck noch und ich kann mich daran weder satthören noch sattdenken. Es gibt keinen Zweifel: ich bin wieder 13 Jahre alt.
Sechstens: Die (Death) Metal-Passagen sind bei weitem nicht so abgedreht, technisch und verkopft, wie in so mancher Besprechung zu lesen ist, und wer mit den früh- bis mittneunziger Alben von Death und Morbid Angel sozialisiert wurde, wird hier sehr sanft gebettet. Fans von beispielsweise Nile oder Beneath The Massacre könnten hingegen wegschnarchen.
Siebtens: Der Eros des Überlegenen, umgehend alles in Schubladen einzusortieren und Vergleiche zu finden, ist erstens laaaaangweilig und zweitens vor allem im vorliegenden Fall auch obsolet - mit was willst Du so eine Platte bitte vergleichen? Ich habe aus meiner Hirnverletzung indes nie einen Hehl gemacht, weshalb ich zum großen ABER ansetze: in einem Musikforum stolperte ich letzthin über einen Ansatz, der für mich bis heute so viel Sinn ergibt, dass ich mir nicht zu schade bin, ihn hier zu erwähnen. Obliveons "From This Day Forward" (1990, Active Recrds) klingt in Sachen Vision und Vibe wie ein Prototyp dessen, was 35 Jahre später als das große Universums-Upgrade von Blood Incantation eingespielt wurde. Sowohl Band als auch Album sollten die Zielgruppe so oder so kennen, ganz besonders im Kontext mit "Absolute Elsewhere" könnten vielleicht ein paar Lampen angehen. Hopp-Hopp!
Ich hab's nun schon ein paar Mal ins Internet reingeschrieben und fuck it, ich mach's nochmal: Mutige und visionäre Bands wie Blood Incantation sind Weltkulturerbe. Es scheint, als hätten wir endlich die geistigen Nachfolger Voivods gefunden.