11.10.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #178: Blind Guardian - Somewhere Far Beyond




BLIND GUARDIAN - SOMEWHERE FAR BEYOND


"Everyone at their base is Enya. No one at their base is Death Metal." (Pete Holmes)


Mir ist die Bedeutung von sogenannten "Guilty Pleasures" zwar geläufig, aber eigentlich ist mir das schuldhafte Hören von Musik ziemlich fremd. Es gibt ganz eventuell Grauzonen, wenn die Sprache auf eine Kaspertruppe wie beispielsweise Manowar kommt, und ich mich fast schon entschuldigend zur Einlassung hinreißen lasse, ihre ersten Platten seien bis heute unantastbare Meilensteine des US Metals - da ist der Absturz ins totale Nichts spätestens ab Mitte der neunziger Jahre aber auch derart beispiellos, sodass derlei Abgrenzung eher als ein natürlicher Selbstschutzmechanismus von Körper, Geist und Seele bewertet werden muss. Im Falle Blind Guardians liegt die Sache etwas anders, aber es gibt Parallelen. Auch hier kam es zur Mitte der neunziger Jahre sowohl zu einem deutlich wahrnehmbaren musikalischen Stilbruch sowie zu einem spürbaren Wechsel in der Vermarktung, und mit der damit einhergehenden Erschließung neuer Fangruppen wurde das Publikum der Band zum Sammelbecken seltsamer - Achtung: dunkelroter Klischee-Alarm - Wurzelsepp-Rollenspieler mit fragwürdiger Körperhygiene und meist luftdicht abgeschlossenem Weltbild. Aus Sicht der heutigen Verhältnisse, in denen wirklich alles komplett scheißegal zu sein scheint, ist das fast schon wieder niedlich und charmant, aber vor dreißig Jahren war mir diese "neue" Szene überaus suspekt. Und ich tat das, was mir mein Bauchgefühl verriet: Abstand halten. 

Und auch wenn mir jenes Bauchgefühl bis heute nichts bedeutend anderes sagt, lasse ich ähnlich wie im Falle Manowar und sehr zum Leidwesen der Herzallerliebsten, auf das Frühwerk Blind Guardians nichts kommen, und ganz besonders nicht auf "Somewhere Far Beyond". Für viele Fans ist das 1992 erschienene Album sakrosankt, und ich stimme mit einiger Überzeugung in den Chor derer ein, für die die Zeit zwischen "Tales From The Twilight World" aus dem Jahr 1990 und dem 1993er Livealbum "Tokyo Tales" der absolute Höhepunkt in der Karriere der Krefelder Band darstellt. Blind Guardians Speed Metal war furios und ungezähmt, gleichzeitig jedoch betont komplexer als fast alles, was sich mit ihnen in der Szene bewegte - womit die hymnischen Melodien und Chöre, die in einem seichteren musikalischen Kontext die Grenze zum Kitsch mit Leichtigkeit überschritten hätten, eben nicht zu harmlosem Tralala, sondern zu herausragenden Hooklines wurden, die die Songs ein ums andere Mal auf ein höheres Qualitätsniveau klettern ließen. 

"Somewhere Far Beyond" ist mit Ausnahme des überladenen und trantütig inszenierten "Theater Of Pain" eine Sternstunde deutschen Heavy Metals: kraftvoll, schnell, tiefgründig, gefühlvoll, technisch auf jeder Ebene außergewöhnlich anspruchsvoll und dabei trotzdem eingängig. Höhepunkt und im Prinzip im Alleingang dafür verantwortlich, das Album in meine Liste der 200 Lieblingsplatten der Neunziger aufzunehmen, ist der über sieben Minuten dauernde und dabei praktisch nicht vom Gaspedal gehende Titeltrack; eine waghalsige Speed Metal Hymne mit einem alles überragenden Finale, nach dem meine Wenigkeit auch 33 Jahre nach Erstkontakt noch schweißgebadet, mit erhöhtem Puls und auf den Boden gekrachtem Unterkiefer ein "UNKAPUTTBAR!" in den Sossenheimer Kiez schreit. Ich sag's jetzt einfach: die Suche nach einem besseren Song einer deutschen Metal Band ist möglich, aber sinnlos.
 

Vinyl und so: Nach langen Jahren des Bittens und Bettelns erbarmten sich Band und Label schließlich im Jahr 2018 und schoben der mittlerweile sehr, sehr selten und damit praktisch unerschwinglich gewordenen Originalpressung endlich den langersehnten Reissue nach. Mittlerweile ist selbst jener im Preis gestiegen, je nach Farbauswahl müssen zwischen 60 und 80 Euro gezahlt werden. Obacht: die Band nahm 2022 zum dreißigjährigen Jubiläum eine komplett neu eingespielte Version des Albums auf. Jene "Revisited"-Vinylausgabe gibt es noch für etwa 30 bis 35 Euro, ist aber nach meiner Einschätzung nur für Sammler und Die Hard-Fans interessant. 


Anstatt der hier üblicherweise verlinkten Albumversionen erlaube ich mir an dieser Stelle, einen Auftritt der Band aus dem Jahr 1992 in der alten (und lange abgerissenen) Batschkapp in Frankfurt zu zeigen. Die alte "Kapp" war berühmt dafür, an guten Abenden eine unnachahmliche Stimmung im Publikum zu entwickeln, und dieser Mitschnitt demonstriert: das war ein guter Abend. Außerdem, und das ist der eigentliche Grund, das Video mit meinen Leser*innen zu teilen, bietet die Aufnahme einen faszinierenden Einblick in die Metalszene der frühen neunziger Jahre. Die Energie sowohl auf als auch vor der Bühne ist selbst mit der suboptimalen Klang- und Bildqualität förmlich zu greifen. Was für eine Zeitreise!





Erschienen auf Virgin Records, 1992.

04.10.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #179: Bolt Thrower - Mercenary




BOLT THROWER - MERCENARY


"Why so heavy?" (Paul Baloff)


Bolt Thrower kündigten im Jahr 2008 an, keine neue Musik mehr zu veröffentlichen. Die Band, seit jeher mit einem so geradlinigen wie kompromisslosen Ethos ausgerüstet, machte deutlich, an ihrem selbst gesteckten Ziel, das perfekte Bolt Thrower-Album zu schreiben, mit dem 2005 erschienenen "Those Once Loyal" angekommen zu sein. Zumindest herrschten offensichtlich Zweifel, das Werk nochmal übertreffen zu können und damit der Tradition zu folgen, ihren einzigartigen Stil mit jeder neuen Veröffentlichung weiter zu verbessern und zu verfeinern. Mit dem unerwarteten Tod ihres langjährigen Schlagzeugers Martin Kearns im September 2015 hat sich das Thema so oder so erledigt. Bolt Thrower sind seit 2016 offiziell Geschichte.

"I can confirm that Bolt Thrower are definitely over for good. There will be no reunion tours. No compromise." (Karl Willetts)

Mit Blick auf die neunziger Jahre, und der Argumentation folgend, jedes neue Bolt Thrower-Album müsse also besser als das Vorangegangene, darf sich "Mercenary" aus dem Jahr 1998 die Siegermedaille aus dem Hause Dreikommaviernull abholen. Bei eingefleischteren Death Metal Fans könnte dieses Urteil für einige bioelektrische Gewitter in der Großhirnrinde sorgen, weil insbesondere die beiden Vorgänger "The 4th Crusade" und "...For Victory" einen größeren Kultstatus in der Diskografie haben - und gemessen am zeitlichen Kontext und der Transformation, die die Band vor allem zu Beginn der neunziger Jahre durchlief, ist das selbst für mich durchaus nachvollziehbar. Andererseits folge ich der (Selbst-)Einschätzung der Band und für die nun folgende Einlassung kommen zum Schädelgewitter womöglich auch noch ein Magendurchbruch und eine Fußamputation hinzu: für mich war bis einschließlich (!) des im Jahr 2001 veröffentlichten "Honour - Valour - Pride" jedes neue Bolt Thrower Album tatsächlich stärker als das Letzte. Lediglich das bereits erwähnte und von der Band als "perfekt" bewertete "Those Once Loyal" fällt für meinen Geschmack aus der Reihe. 

Auf "Mercenary" stehen hingegen alle Regler auf zehn. Man spürt, dass die Band jede Komponente ihres ureigenen Stilmixes aus einem wirklich alles zermalmenden Groove, feierlichen und für Death Metal-Verhältnisse ungewöhnlich erzählerischen Gitarrenmelodien und der zwischen Abgekämpftheit und Angriffslust pendelnden Stimme von Karl Willetts nochmal angepackt, ausgepackt und optimiert hat. Alles ist ein bisschen größer, weiter, stärker. Vielleicht im direkten Vergleich mit den Vorgängern auch insgesamt mit etwas gedrosseltem Tempo, aber meine Leserinnen und Leser ahnen es bereits: alles für den Groove! Und fuck me, so viele Hits! Allen voran die beiden Klassiker "No Guts, No Glory" und "Powder Burns" (inklusive des 1989 auf "Realm Of Chaos" eingeführten und später mehrmals als Intro fortgesetzten "World Eater"-Themas), die beide zeigen, dass Melodien und Hooklines im Death Metal nicht automatisch ins Niemandsland des Melodic Death Metal führen müssen, einem der nach wie vor größten Missverständnisse des Heavy Metal. 

"Mercenary" ist heavy. Sehr heavy. Außerdem heavy. Und nicht zuletzt ziemlich heavy. Darüber hinaus: heavy! 
 

Vinyl und so: Obacht! Meine Reissue-Version aus dem Jahr 2021 hat große Probleme, und ich kann leider nicht sagen, ob das sämtliche Reissues und Farbvarianten betrifft. Qualitativ liegt das Vinyl von Metal Blade üblicherweise im höchsten Regal, aber hier gibt's einen Fuckup, der mir so auch noch nie zuvor unterkam: die Platte wird über die Spielzeit immer leiser. Der Opener "Zeroed" ist laut und ballert, aber schon das letzte Stück auf der A-Seite ist im Vergleich deutlich leiser. Die Entwicklung setzt sich leider auf der B-Seite fort. Ich hatte Metal Blade vor vier Jahren angeschrieben, aber (natürlich!) keine Antwort erhalten. Für das Original aus dem Jahr 1998 in gutem Zustand muss mit einem dreistelligen Betrag kalkuliert werden.


 



Erschienen auf Metal Blade, 1998.