01.03.2025

Best Of 2024 ° Platz 4: The Cure - Songs Of A Lost World




THE CURE - SONGS OF A LOST WORLD


"Keiner kommt hier lebend raus." (Black Spider Clan)



Rückblende in den Oktober 1995. Herr Dreikommaviernull sitzt in einem Flugzeug nach London. Klassenfahrt. Neben mir im Flieger sitzt Tessa. Wir kennen uns nicht besonders gut, aber sie trägt immer schwarze Doc Martens Stiefel, dazu einen übergroßen Parka, und in ihre lange braunen Haare sind kleine Schmucksteine eingefädelt. Tessa wirkt damit zwar sehr cool und alternativ, ist aber stets sehr ruhig und zurückhaltend, introvertiert. Sie spricht leise. Und sie ist unantastbar der größte Fan von The Cure des ganzen Schuljahrgangs. Wäre "besessen" nicht so negativ konnotiert, ich tät's hier hinschreiben. 

Ich bin nervös. Zu einen sitze ich zum ersten Mal in einem Flugzeug, zum anderen, naja, sitzt Tessa neben mir, und ich weiß immer noch nicht so recht, ob ich mit 18 jetzt schon in der Pubertät war oder ob das alles noch kommen wird. Unsicher, unbeholfen, unerlöst - Ich habe das volle Paket an Bord. Wir sprechen über Musik und Tessa fragt mich, ob ich denn auch auf The Cure stehe. Tu' ich nicht. Ich kenne zu diesem Zeitpunkt allerdings bewusst nur zwei Songs, und zwar jene, die auf MTV rauf und runter liefen: "Lullaby" und "Friday I'm In Love". In meiner Jugend erscheint das alles zu aufgesetzt und zu theatralisch, die Haare, die Schminke, der ganze Duktus erreicht mich nicht. Es ist vor allem die Stimme des Sängers, die mich provoziert. Ich habe über die Jahre eine wirklich unglaublich schlechte Robert Smith-Parodie entwickelt und welcher Hafer mich auch immer im Landeanflug auf Heathrow gestochen haben mag, sage ich zunächst unangenehm laut "NEIN! OH GOTT, DIE SIND SO SCHLIMM!" und gebe anschließend Töne von mir, die für mich perfekt nach Robert Smith, für Tessa wohl eher wie Isegrim auf LSD klingen, sofern ich ihren Gesichtsausdruck richtig einordne. Wir erkennen erstens: ich war schon damals granatenbescheuert, und zweitens: die Tatsache, dass mir die Szenerie noch so lebhaft in Erinnerung ist, liegt nicht zuletzt daran, dass es mich seit 30 Jahren als Mahnmal begleitet und mich stets daran erinnert, doch bitte nicht mehr so arg doof zu sein. 

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Rückblende in den September 2013. Herr Dreikommaviernull ist von Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden nach Last Exit Sossenheim gezogen. Es ist ein früher Sonntagmorgen, vielleicht 1 Uhr in der Nacht. Ich zappe durchs bundesdeutsche Qualitätsfernsehen und bleibe auf 3Sat hängen. Da steht Robert Smith auf der Bühne. The Cure geben ein Konzert. Mir entfährt ein "Fuck, The Cure!" und werde augenblicklich übellaunig. Vielleicht ist meine Antipathie seit den neunziger Jahren etwas erkaltet, aber die Pflege meiner Feindbilder nehme ich nach wie vor ziemlich ernst. Ich finde heraus, dass es sich hier um einen Auftritt in Berlin handelt, an dem die Band drei ihrer Alben hintereinander gespielt hat. Also, komplett. An einem Abend. Veröffentlicht unter dem überraschenden Titel "Trilogy". 

"Wer schaut sich denn bitte stundenlang dieses Zeug an? Drei ganze Platten? Alter! Da schnarchst Du doch weg!"

Es ist mittlerweile drei Uhr, und ich bin nicht weggeschnarcht. Im Gegenteil, ich bin hellwach und schaue seit zwei Stunden gebannt dieser Band zu. Smith ist gerade zum letzten Mal von der Bühne gegangen. Ich surfe umgehend zu Discogs und kaufe mir völlig entgrenzt "Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me", "The Head On The Door" und "Pornography" auf Vinyl. Ich habe in dieser Nacht das Licht gesehen. Seitdem bin ich Fan. Vielleicht nicht so besessen wie Tessa, aber der Weg ist ja auch das Ziel. 

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Rückblende in den November 2024. The Cure haben vor einigen Monaten ihr erstes Studioalbum seit 16 Jahren angekündigt. Herr Dreikommaviernull ist alleine ob der Aussicht unterwältigt. Mir geht diese ganze Nostalgie-Kaffeeklatsch böse gegen den Strich. Diese ganzen alten Dinosaurier, die sie alle mittlerweile zu nichts als einer Marke, einem "Brand" verkommen sind und sich durch die - freilich ausverkauften - Arenen schleppen, um nochmal so richtig den Rahm abschöpfen zu können. Und sie alle klingen lahmarschig, alt, staubrocken, gelangweilt, satt. "Alles nur Show, alles Fassade" (Blank When Zero), und jetzt reihen sich also auch noch The Cure da ein? 

Der Teaser "Alone", knapp fünf Wochen vor dem Albumrelease veröffentlicht, ließ mich zunächst indifferent zurück. Das konnte ich jedoch noch auf meine traditionell ausgeprägten Unzulänglichkeiten schieben, mit einzelnen Songs außerhalb eines Albumkontexts irgendeine Verbindung aufzubauen. Aber dann kam der 1.November. Ein kalter, ungemütlicher, grauer Tag im Frankfurter Westen. Die Lohnarbeit ist heute besonders unerträglich und selbst die Aussicht auf das freitägliche Pizza-Ritual am Abend kann meine Stimmung nicht bessern. Ich könnte jetzt etwas fürs gute Gefühl brauchen, for the German Gemütlichkeit, und sei's nur die auf dem Plattenteller. Auf Instagram tauchen die ersten Beiträge mit Bildern des Vinyl von "Songs Of A Lost World" auf, und die ganze Welt scheint vor Begeisterung zu platzen. Das will in dem Rahmen nichts heißen, zum einen gehören die meisten Schallplattenfreaks genau zu jener oben beschriebenen Gruppe, der Musik mittlerweile kilometerweit am Arsch vorbei geht, solange man sich in dem süßen Kleister der Wehmut suhlen kann, zum anderen gehören Fans von The Cure zu den loyalsten Fans der Welt - die fallen auch auf die Knie, wenn Robert Smith den Beipackzettel eines Durchfallmedikaments auf Hindi vorliest. Und dennoch: ich werde jetzt auch ein bisschen wuschig. Ein bisschen sehr wuschig.

So wuschig, dass ich mich in meiner Mittagspause (zur Einordnung: ich stehe seit über 25 Jahren im Arbeitsleben und habe seitdem maximal 13 Mittagspausen gemacht!) ins Auto setze und zu einem verfickten Mediamarkt (!) fahre, um "Songs Of A Lost World" zu kaufen. Party like it's 1995, Party People! In jenen Zeiten bin ich nämlich auch am Veröffentlichungstag in den Frankfurter Musikladen gefahren, um direkt nachdem Inhaber Thomas Glück die Türen aufschloss, die so heißersehnte und just erschienene Platte mit nach Hause zu nehmen. Manchmal bin ich sogar von der S-Bahn Station Konstablerwache zu der ehemaligen Nummer 1 aller Frankfurter Plattenläden in der Stiftstraße GERANNT, weil ich es kaum mehr erwarten konnte, endlich mein zweites Wohnzimmer zu betreten. Heute renne ich nicht mehr, das Alter, Sie wissen schon. Dreißig Jahre später ist das Gefühl allerdings erschütternd ähnlich.

Als sich am Abend dann die Nadel zum ersten Mal auf die Schallplatte absenkt, hat sich die Indifferenz schon nach wenigen Sekunden in Luft aufgelöst. Ich bin entwaffnet. Wehrlos. Und alles, was ich in den nächsten Tagen und Wochen tun möchte, ist diese Platte zu hören. Zu versinken. In all dem Weltschmerz, all der Melancholie. Die Band hat sich mit dem Release viel Zeit gelassen, und sie lässt sich auch auf "Songs Of A Lost World" viel Zeit, ihre Musik atmen zu lassen. "Alone", "And Nothing Is Forever", "Warsong" und "Endsong" bauen sich Minute für Minute auf, bevor Smith schließlich mit seinem Gesang einsetzt. Das geht praktisch gegen alles, was heute en vogue ist und was sich die von der Überverfügbarkeit von Musik und von der ADHS-Überreizung geschlagenen Menschen heute so unter Musik vorstellen: Intros werden ersatzlos gestrichen, am besten geht's sofort mit dem Chorus los, die Strophen werden unauffällig in das Dauerfeuer aus hyperaktivem Melodiegeflacker gequetscht. Denn wenn's nach sieben Sekunden, irgendein moralisch verwahrloster Marketingmanager wird's wohl mit einer Excelkalkulation herausgefunden haben, nicht gefunkt hat, dann wird zum nächsten musikalischen Nichts geskippt, das einem hoffentlich druckvoller ins Gesicht kotzt.

The Cure müssen sich um sowas keine Gedanken mehr machen, denn die Zielgruppe will's natürlich genau so: alles ist Vibe, alles ist Tiefe, alles ist Vergegenwärtigung. Und so wurde "Songs Of A Lost World" so innig umarmt, wie ich es in den letzten 20 Jahren nur ganz selten erlebt habe. Nimmt man die Statistiken auf Discogs zum Maßstab, hat sich die Schicksalsgemeinschaft der verlorenen Welt innerhalb kürzester Zeit um diese Platte versammelt. Mittlerweile haben dort über 40000 Menschen angegeben, das Album entweder als LP, CD oder Tape gekauft zu haben - und das in nur drei Monaten nach Veröffentlichung. Man verzeiht mir bitte den Pathos, aber die Welt hat ganz offensichtlich auf "Songs Of A Lost World" gewartet. Es hat zum genau richtigen Zeitpunkt die Schmerz-und Reflektionspunkte von gleich mehreren Generationen getroffen. 

Das ist auch deshalb außergewöhnlich, weil musikalisch hier so gar nichts nach Nostalgie klingen mag. Es gibt keinen Blick zurück, ich fühle keine Verklärung, ich höre kein wiederaufgekochtes Süppchen aus den Achtzigern. "Songs Of A Lost World" klingt zu jeder Sekunde nach The Cure und absolut zeitgemäß. Textlich ist es bemerkenswert, weil Smith sich in fast jedem Song mit dem Älterwerden befasst, mit dem Zerfall, dem Loslassen, der Einsamkeit, der Isolation, den immer und immer wieder so quälenden Fragen über das Leben und ganz besonders den Tod. Die immer erdrückendere Gewissheit über die Endlichkeit der eigenen Existenz, aus der so viele Fragen und so wenige Antworten im Raum stehen. Mir geht das sehr nahe. Und ich habe noch nicht entschieden, ob es eine gesunde oder ungesunde Nähe ist. 


It's all gone, it's all gone
Nothing left of all I loved
It all feels wrong
It's all gone, it's all gone, it's all gone
No hopes, no dreams, no world
No, I, I don't belong
No, I don't belong here


Am Ende des zehnminütigen und hochdramatischen "Endsong" wirft uns Smith ein drei Mal nachhallendes "Nothing" vor die Füße. 

Es ist nur ein Wort. 

Es ist viel mehr als nur ein Wort.


 



Erschienen auf Fiction Records, 2024.

22.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 5: Theef - Sun & Smoke




THEEF - SUN & SMOKE



"I knew I wasn't making music to release it, it was more of a way to provide myself a safe space and I didn't expect anything to happen, but it looks like it did. My safe space is now out for others to join." (Eftihis aka Theef)



Ich hatte es an anderer Stelle schonmal erwähnt, dass 2024 aus musikalischer Sicht eigentlich ein sehr rockiges Jahr für mich war, und auch wenn die bisherige Bestenliste bislang nur wenige Beweise für jene These ausspuckte, hörte ich im vergangenen Jahr soviel - im weitesten Sinne - Rock wie schon lange nicht mehr. Irgendein altes und verrostetes Scharnier hatte sich wohl wieder ein bisschen gelockert. Ich hatte wieder mehr Lust auf etwas Lautes und Dreckiges, auf Ausgelassenheit und Extrovertiertheit. Ich will nicht über Gebühr mit den vermeintlichen Gründen für diese Entwicklung langweilen, aber ich hielt mich seit Juni 2024 sehr regelmäßig in unserer modrigen Gartenlaube zum Training auf und die Deadlifts gehen mir mit Krach deutlich einfacher von der Hand als mit introspektiven Ambientsounds. Dabei war ja auch nicht alles Rock, was rockte: geradliniger four to the floor Techno mit viel Drive eignet sich zum Heimtrainer-Irrsinn mindestens genauso gut. Und genau hier tanzt "Sun & Smoke" aufs Radar. 

"Sun & Smoke" ist eines jener Alben, die schon beim allerersten Kontakt einen Anker setzten, irgendwas war hier schon ab den ersten Sekunden des noch recht ätherischen Openers "Sky Textures" besonders - und um die weitere Entwicklung gleich vorwegzunehmen: es sollte noch besser, noch eindrücklicher werden. Denn "Sun And Smoke" ist nicht zuletzt für A Strangely Isolated Place-Verhältnisse außergewöhnlich lebhaft; in Sachen hypnotisierender Intensität und Dancefloor-Kompatibilität lassen sich, um im Labelkontext zu bleiben, höchstens Vergleiche mit Yagya's "Stormur" ziehen. Banger folgt auf fuckin' Banger. Mich traf das sofort ins Herz. Es macht ungeheuren Spaß, diese Platte zu hören. Bei allem Drive, bei aller Ausdauer, bei aller Tanzbarkeit liegen hier doch viel mehr Komplexität und ein profundes Verständnis von visionärem Sounddesign unter der Oberfläche. 

Dabei erschien "Sun & Smoke" schon 2019 als zweistündiges Mixtape auf Soundcloud und Youtube, wo es in Szenekreisen einigen Staub aufwirbeln konnte. Theef, ein bis dato relativ unbekannter Produzent aus Griechenland, stellte seine unveröffentlichten Tracks für das Set zusammen - und Ryan von A Strangely Isolated Place bekam Wind von der Sache. In den späten Abendstunden wurde "Sun & Smoke" zu seinem regelmäßigen musikalischen Begleiter, sodass er Theef schließlich kontaktierte und die beiden über eine Zusammenarbeit sprachen. Ryan pickte anschließend die favorisierten Tracks für eine Vinylveröffentlichung aus. Auf Bandcamp ist auch der vollständige, zwei Stunden laufende Mix verfügbar, der übrigens nicht nur beim Training, sondern auch ganz hervorragend beim Arbeiten funktioniert. Man darf mir vertrauen, ich hab's in unzähligen Excelsessions für euch getestet. Die Platte war gar so erfolgreich, dass das Label ausnahmsweise einen Repress nachschob, um die Nachfrage zu bedienen. 

File under: Wenn Jean Michel Jarre im Jahr 2024 ein Technoalbum produzieren würde.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2024. 

16.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 6: Mary Lattimore & Walt McClements - Rain On The Road




MARY LATTIMORE & WALT McCLEMENTS - RAIN ON THE ROAD


"There's a thing called accountability and you need to open up an account." (Sam Loudermilk)



Und da saß ich eines Morgens auf unserer durchgesessenen, alten Couch mit der ersten Tasse Kaffee des Tages. Es ist 8:30 Uhr. Juni. Der Frühling schwingt noch ganz leise nach, die Luft vibriert noch ein bisschen vom Wiedererwachen des Lebens nach dem Winter. Das Licht ist frühlingshell, selbst wenn es heute eigentlich kein Durchkommen gibt. Der Regen hat nachgelassen, es riecht nach Petrichor und nach nassem Holz. Die letzten vom Dach perlenden Wassertropfen fallen auf den Efeu auf der Terrasse und nach jedem leisen *ping* mischt sich der Duft von in den Händen zerriebenen Blättern in die Atmosphäre. 

Ich habe gerade "Rain On The Road" aufgelegt und es läuft der zweite, fast 13-minütige Song "The Poppies, The Wild Mustard, The Blue-Eyed Grass". Ich lese den politischen Essay von Stefan Gärtner in der aktuellen Ausgabe der Titanic, "Some Of Us: Strangers", und in die ohnehin trübe Stimmung wegen des bevorstehenden Arbeitstages vermengt sich noch die Ohnmacht über die Zustände von praktisch allem, Welt, Leben, Menschen, das ganze Scheißuniversum ist einfach fucked. 

Und da saß ich also eines Morgens auf unserer durchgesessenen Couch und baller' mir die erste Tasse heißes Agonie-Gulasch in den gierigen Schlund - und plötzlich kippt hier etwas, irgendwas im Raum scheint sich zu verändern. Mein Blick ist jetzt nicht mehr auf Gärtners Text gerichtet, sondern auf den Plattenspieler. Mein Oberkörper fällt nach hinten ins weiche Kissen. Ich höre zu. Habe das Gefühl, ich höre dabei zu, wie sich Leben anhört. Wie sich Erleben anhört. 

Mary Lattimore an der Harfe und Walt McClements am Akkordeon haben "Rain On The Road" in einem verregneten Dezember in Los Angeles aufgenommen. Geschrieben wurden die fünf Exkursionen ins Licht auf gemeinsamen Tourneen. Ihre Kompositionen entwickeln sich aus leisen, dürr verästelten Field Recordings und Tontupfern aus Lattimores Harfe und McClements Akkordeon zu magischen, hypnotischen Wellen und Mustern, die in ihren intensivsten Momenten eine bemerkenswerte erzählerische Kraft entwickeln. Viel Demut, viel Faszination - ja, viel Bewusstsein für die Wunder dieser Welt. 

Musik für Momente, die man nicht mehr vergisst.


 



Erschienen auf Thrill Jockey, 2024. 

09.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 7: Thomas Dybdahl - Teenage Astronauts




THOMAS DYBDAHL - TEENAGE ASTRONAUTS


"You called me a vagina? How dare you?" (Kurt Cobain)


Eigentlich bekommt man über die komplette halbe Stunde des neuen Albums von Thomas Dybdahl eine Gänsehaut auf den Körper tapeziert. Der norwegische Songwriter jammert, jauchzt, haucht, flüstert seine Kindheitserinnerungen direkt aus seinem Herzen heraus und ist dabei vielleicht so nah bei uns wie nie zuvor. 

Die Songs sind dabei in ihrer Anlage auf das absolute Minimum reduziert; psychedelische Experimente, wie sie beispielsweise auf "The Great Plains" zu hören waren, gehören also der Vergangenheit an. Aber was hier drum herum passiert, ist schlicht eine Meisterleistung in Sachen Arrangement und Inszenierung. Zusammen mit dem Stavanger Symphony Orchestra, das sehr subtil, aber stets wahrnehmbar die Dynamiken erkennt und sie in den richtigen Momenten verstärkt oder reduziert (beispielhaft sei auf das unten verlinkte "Graffiti Boy" verwiesen), wirft Dybdahl seine Erlebnisse auf die musikalische Leinwand und lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass hier jede Millisekunde durchgetaktet ist. Was für ein Selbstverständnis, was für ein Vertrauen in die eigene Vision und die eigenen Fähigkeiten. 

Und diese Produktion schon wieder - möglicherweise erinnert sich noch jemand an meine Worte zum fantastischen "All These Things" Album aus dem Jahr 2018, das seinerzeit mit der Begleitband von Sheryl Crow aufgenommen wurde und schon außerweltlich gut klang. "Teenage Astronauts" ist ähnlich unmittelbar, so präsent, so intim. 

Unfassbar, wie gut Musik klingen kann.




Erschienen auf Petroleum Records, 2024. 


08.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 8: Kim Gordon - The Collective




KIM GORDON - THE COLLECTIVE


"Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken." (Karl Kraus)


Ein Album wie eine Bestrafung. Eine Wand aus hartem und stumpf pumpendem Industrialnoise, mit Rissen und Kratern übersäht, dazu dumpfe Schläge gegen die Schläfen. Darunter liegen erbarmungslos stoische Trap Beats und Basslines, die an Björks "Army Of Me" erinnern, wenn sie durch einen Industriestaubsauger gejagt und anschließend von einem Irren mit Hackebeil zerstückelt wurden. Und dann kommt Kim Gordon mit ihren stream-of-consciousness Texten und dreht alle Intesitätsregler auf Kernschmelze. 

Noch nie habe ich mich beim Anhören einer Kofferpackliste so klaustrophobisch gefühlt wie im Opener "BYE BYE", andererseits hat mir auch niemand jemals eine Kofferpackliste vorgelesen. In "I'm A Man" klingt Kim wie ein betrunkener Psychopath in der Brunftzeit und singt "So what if I like the big truck? Giddy up, giddy up", und das bloße Anheben ihrer Stimme im letzten "Giddy up" jagt mir ein Gewitter durch die Großhirnrinde. Jede gesprochene und verzögerte Silbe, jede Pause, jeder Nachhall, jedes nachgehauchte "yeah" und halb verschluckte "uh", jeder noch so minimale Glitch in ihrer Stimme ist durchdachte Strategie. 

Was bemerkenswert ist, denn welches Bild und welche Assoziation schließlich bei uns allen ankommen, ist so ambivalent wie zufällig. Gordon feuert diese sowohl musikalische als auch lyrische Kakophonie aus tausend Rohren, ist manchmal verletzlich, manchmal monströs und es scheint, als ob die Deutungshoheit von genau jenem Nerv ausgeht, der gerade in mir selbst angepiekst wurde. Insofern, und hier schließt sich der Kreis zum Eingangssatz, hat Gordon den Boden mit glühenden  Legosteinen ausgelegt und schubst mich durch den dunklen Raum. 

Alle haben Spaß.


 



Erschienen auf Matador, 2024.


01.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 9: Alex Albrecht - Allambie




ALEX ALBRECHT - ALLAMBIE


"The ideal subject of totalitarian rule is not the convinced Nazi or the convinced Communist, but people for whom the distinction between fact and fiction (i.e., the reality of experience) and the distinction between true and false (i.e., the standards of thought) no longer exist." 
(Hannah Arendt, 1951)


"Muss es eigentlich immer nur dieser Schönklang sein? Muss immer alles in dieser rosaroten Watte eingepackt sein, die die fiese Fresse dieser eiskalten, verlogenen, verdreckten Scheißwelt da draußen stopft? Wo ist denn bitte Dein Nihilismus hin? Wo ist Dein Zorn? Du furzt nur noch Deine Couch voll, Florian! Teilst Bilder von Deinen Scheißplatten im Internet und zeigst stolz Deine "Fuck Capitalism"- Tasche. Die Ironie erkennste, ne?!" 

Kinder, das kann alles sein, aber hört euch doch mal bitte "Green Shade" vom aktuellen Album von Alex Albrecht an. Oder "Minak Reserve". Und jetzt machen wir uns alle mal einen schönen Kaffee, machen das Fenster weit auf, schnurzpiep, dass es da draußen gerade schneit, ziehen entspannt einen durch und dann unterhalten wir uns nochmal über Nihilismus. Nice try, gelle?! Das geht dann nämlich gar nicht mehr. Wegen der Genetik, oder so. Klingt wissenschaftlich, muss demnach also stimmen. Gibt's bestimmt einen Podcast von zwei weißen Super-Bros drüber, die ihre Sätze mit "Ich hab ja letztens gelesen, wo war das gleich - stimmt, in der WELT!" beginnen. 

Die Wahrheit ist aber eine andere, denn Alex Albrecht bringt uns die Schönheit des australischen Dschungels ins Wohnzimmer. Oder auch aufs Gästeklo, wenn Du willst. Das ist dem Alex nämlich egal, wo Du das Licht siehst. Stellt Dich mal auf die kommenden Endgegner ein: Field Recordings von zwitschernden Vögeln, murmelnden Pflanzen (Farne! FARNE!), knarzenden Mammutbäumen, quietschendem Moos, ein in Sepia getupftes Piano, die frischkäsigsten Basslines, die hypnotischsten Tribalbeats und die Sonne auf halb acht am Abend. Ich erinnere mich an meine Kindheit und das Herumtollen mit meinen Buddies an einem Sommerabend in den späten 1980ern in einem Frankfurter Vorort, als die Luft nach Sonne schmeckte. 

Die Sache ist die: Jeder hat seine eigene Geschichte. Der in Perth geborene Produzent vertont die seine auf Alben und in DJ Sets. Meistens improvisiert er über eine vorab ausgewählte Palette von Beats, pickt sich die passende Tonart heraus und geht auf seine Reise durch die Natur. Und da gehen wir dann eben einfach mit. Unseren Nihilismus und unsere Verzweiflung tragen wir von mir aus im Rucksack mit uns herum, aber ich muss mich doch nicht die ganze Zeit anschreien lassen. 

Wenn ich Kopfweh habe, nehm' ich auch 'ne Tablette.


  


Erschienen auf Analogue Attic, 2024 


26.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 10: Lihla - Socha




LIHLA - SOCHA


She must
Wipe away tears and reclaim strength
After rape, abortion, lover's betrayal, child's birth, child's death,
husband's abuse
Tricking to buy baby shoes
She must
Be called a muse
Which is just a synonym for use
Put upon pedestals
Dainty and protected
And because of that disrespected
Victorianized
Made a paradox of famous anonymity
Left to go insane with too much femininity
Staring at yellow wallpaper
(Ursula Rucker, "What A Woman Must Do", 2003)


"Socha" ist eine Messe. Ich meine das nicht im religiösen Sinne. Wobei, vielleicht...doch?! Es hat einen ganz besonderen Pull, einen Drang zur Ernsthaftigkeit, auch etwas Asketisches. Vor allem letzteres mag auf den ersten Blick eine irritierende Einschätzung sein, denn eigentlich gibt das die Musik nicht so recht her. Die ist zwar minimalistisch, aber nicht selten dennoch theatralisch, brodelnd, gewaltig und verbindlich. Ganz bestimmt ist sie in der Schattenwelt zu Hause, in alten, dunklen Gemäuern, deren Inneres von an der Wand hängenden Fackeln erhellt werden. 

Das Bild kommt nicht von ungefähr, weil es sich manchmal so anfühlt, als würde ich nachts durch ein Kloster laufen, und zwar im 17.Jahrhundert. Ich werde garantiert daran scheitern, hier präzise herauszuarbeiten, wie sich Fülle und Minimalismus, Askese und Sinnlichkeit auf "Socha" miteinander verbinden, also nähern wir uns lieber mit einem Zitat an. Johan Edlund von der Heavy Metal Band Tiamat sagte mal über Dead Can Dance, deren Musik würde ihn an die unterschiedlichsten Orte versetzen, mal stehe er in einer riesigen Kathedrale, mal in einem tiefen Wald. Meine Theorie dazu ist, dass Musik in solchen Ausnahmefällen irgendeine Verbindung ins Innere findet und dort an gelebte Leben andockt, an Erinnerungen, Ängste, vielleicht auch ans Unterbewusstsein oder einfach nur an die Dose mit veganem Heringssalat, der das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hatte, whoopsy  - und dort eine Art Feedbackloop erzeugt, der dann mit Bildern antwortet. 

"Socha" gelingt ein ähnlicher Verbindungsaufbau. Vielleicht sind es die zahlreichen Spoken Word Passagen, die mystischen Gesänge aus unterirdischen Höhlensystemen, die Atemgeräusche, die aus der Ferne über offene Felder rituell-donnernden Trommeln, die "Socha" auf mich so...sakral wirken lassen.

Ein ganz bemerkenswertes, hintergründiges und inspirierendes Album.



  



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2024.

19.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 11: Slomosa - Tundra Rock




SLOMOSA - TUNDRA ROCK


"Irgendwann wird es die Kraft der Polemik gar nicht mehr geben. Nur noch Worthülsen, die im Brackwasser der Beliebigkeit untergegangen sind!“ (Georg Schramm)


Dass mir am Ende des Jahres 2024 tatsächlich nochmal eine Stonerrockband derart die Beine weggrätscht, ist mit Verlaub unerhört. "Tundra Rock" von diesem aus Norwegen stammenden Quartett ist eine von jenen Platten, die schon ab der ersten Sekunde eigentlich keine Chance darauf hatte, sich durchzusetzen -  und fuck me, diese Chance hat sie genutzt. 

Langsam, langsam, laaaangsaaaam - die Barrieren im Kopf müssen erstmal von einem gepanzerten Unimog plattgemacht werden, klar - wurde es aber mit jedem Durchlauf offensichtlicher: das hier ist anders als der Rest der aalglatten Schwiegermuttercombos, die seit 20 Jahren das Genre mit aufgespritzten Bollersounds und manierierter "Echte Männer heiraten ihre Bremsstreifen"-Ästhetik in die nächstbeste Senkgrube manövriert haben. Es ist vor allem echter. Dabei, und ich kann nicht genug darauf herumreiten, ist hier musikalisch praktisch alles zusammengemopst. Und natürlich alles bei Kyuss und Queens Of The Stone Age. Und jetzt kommt's: es ist mir scheißegal. Das macht alles zu viel Spaß, sorry. 

Größtes Wunder ist möglicherweise, dass die Band es irgendwie hinbekommen hat, sich nicht ständig am absoluten Intensitätslimit zu bewegen, ohne dabei den Impact, die Wucht ihrer Grooves und Riffs zu opfern. Hier ist Luft zum Vibrieren. Maximale Heaviness bei maximaler Lässigkeit. Wer sich vom instrumentalen Schlussteil von "Red Thundra" mal aus den Latschen ballern ließ, wird's vermutlich sofort verstehen. Mein heimlicher Favorit auf einer nahezu makellosen Platte ist der Abschlusstrack "Dune" mit seinen beschwörenden Backingchören, die einem tagelang in den Ohren kleben bleiben. Die sind garantiert auch irgendwo geklaut. 

Ist das am End' von Boney M?





Erschienen auf Stickman Records, 2024.

17.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 12: Julia Holter - Something In The Room She Moves




JULIA HOLTER - SOMETHING IN THE ROOM SHE MOVES


"I'm from Mars, Mom." (Kory Clarke)


Nach ihrem Album "Ekstasis" aus dem Jahr 2012 ist mir die kalifornische Musikerin Julia Holter ziemlich vom Radar gerutscht. In meinen Einlassungen zu besagtem Album schrub ich damals, noch nicht genau zu wissen, was ich mit der Musik anzufangen habe - und trotz meiner grundlegend positiv geratenen Bewertung fürchte ich heute, dass meine sich in den kommenden Jahren zeigende Ignoranz Gründe hatte. Das neue Album "Something In The Room She Moves" wurde von Kritikern wie Anthony Fantano und Menschen, auf deren Urteil ich mich im Großen und Ganzen verlasse, mit Lob überschüttet, weshalb ich mich nochmal dazu aufschwang, nach einem Eingangstor in ihren musikalischen Kosmos zu suchen. 

Ich kann heute berichten, es möglicherweise gefunden zu haben. So richtig einfach macht sie es mir aber immer noch nicht. Holter schwebt wie gewohnt über alle stilistischen Grenzen hinweg, experimentiert mit dekonstruierten Songarrangements, mehrdimensionalen Stimmungen und Melodien, taucht mal in jazzigen Gefilden auf, dann wieder in diesigen Ambientfeldern ab, setzt poppige Akzente im Kontext elektronischer Musik wie in "Spinning", und hat insgesamt eine dennoch fein austarierte Mischung aus Außenseiter-Pop und Avantgarde entwickelt. 

Die drei Leuchtfeuer des Albums "Sun Girl", "Spinning" und "Evening Mood" sind wie der Titeltrack bei aller Experimentierfreude leichter zugänglich, während Produktionen wie "Meyou", "Ocean" oder "Materia" - letztgenannter glänzt darüber hinaus mit einer besonders beeindruckenden Gesangsperformance - das Pendel in den verkopften Bereich ausschlagen lassen. Im Mittelpunkt steht für mich allerdings die schlicht atemberaubende Produktion, die sowohl die Musiker als auch die Zuhörer gegenwärtig werden lässt und die Aufmerksamkeit unmittelbar in den dreidimensionalen Raum dieser Musik zieht. 

"Something In The Way She Moves" ist eine wahrhaft immersive Erfahrung.


 


Erschienen auf Domino Records, 2024. 


11.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 13: Warmth - Parallel (Reflection)




WARMTH - PARALLEL (REFLECTION)


"Zu Deutschland noch eins: Wenn man Kriege verhindern will, darf man nicht der drittgrößte Waffenexporteur sein wie Deutschland und an jedem Krieg verdienen." (Gregor Gysi)


Erst in allerletzter Sekunde ist mir diese Neuinterpretation von Warmths Album "Parallel" in die Jahresendabrechnung geschlittert. Das Original erschien im Jahr 2018 und gilt für Genrefreunde mittlerweile als kleiner Klassiker des minimalistischen Ambient. Wie bereits auf seinem Album "Essay" gelang dem aus Valencia stammenden Produzenten Agus Mena auf "Parallel" die Inszenierung seiner Musik mit majestätischer Eleganz, ohne jeden Anflug von Dramatik. Die Weichheit seines Sounds und die außerordentlich subtilen und geschmackvollen Verschiebungen in den unterliegenden Schichten sind legendär, weshalb "Parallel" sich auch bestens für Schlafmusik eignet. Um Missverständnisse zu vermeiden: das ist alles andere als despektierlich gemeint. In diesen Zeiten sollten wir glücklich über alles sein, was uns diesen ganzen Schwachsinn da draußen für wenigstens ein paar Stunden entfliehen lässt, ohne alle zehn Minuten schweißgebadet aufzuwachen. 

Für diesen im September 2024 erschienenen zweiten Blick auf das Album hat Warmth im Vergleich zum Originalwerk mehr Lichtschattierungen, mehr Reflektionen (pun intended) eingehäkelt, die die Stimmung für mein Empfinden etwas mehr in die nicht mehr ganz so frühen Morgenstunden schweben lassen. Mehr Hoffnung, mehr Bewusstheit, mehr Vertrauen. Alles für einen neuen Tag. 

Der medizinische Einsatz von "Parallel (Reflection)" zur Behandlung von Angstzuständen sollte in Betracht gezogen werden.


 


Erschienen auf Archives, 2024. 


07.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 14: Slow Dancing Society - Do We Become Sky?




SLOW DANCING SOCIETY - DO WE BECOME SKY?


"Experiences are the most precious thing you have." (Mark Burgess)


Ein Koloss. Über fast 90 Minuten hat der US-Amerikaner Drew Sullivan glitzernden Sterbenstaub über diese Platte rieseln lassen, der sich in den höchsten Sphären mit den eigenen Lebensreminiszenzen verbindet und sich dort vernetzt, eins wird mit den internen Schaltkreisen, mit Hoffnungen, Ängsten, Glücksgefühlen, Trauer, Liebe. 

Drew nennt seinen Sound "Glambiant" und als ich ihm kürzlich via Instagram mitteilte, wie einzigartig und originell dieser Ansatz ist, antwortete er: "Yes indeed as I’ve always loved the glam esthetic that can be applied to ambient in ways that make everything just bigger!" - und auf "Do We Become Sky?" wirkt tatsächlich alles ein bisschen größer. Nicht notwendigerweise im Sinne eines Brock van Wey/bvdub, der schon im Leerlauf auf der Hochebene operiert und von dort wahre Orkane über das Land zu schicken vermag. Drews Musik existiert im Kern in einem Kokon, sie ist introspektiv, zurückhaltend und fürsorglich. Ihm gelingt auf "Do We Become Sky?" die behutsame Expansion aus diesem Geflecht. Er öffnet damit den kleinen Raum der Einkehr, macht ihn durchlässiger für Austausch, für Wachstum, für Licht. 

Im dreizehnminütigen Herzstück des Albums "Devastation Is The Path To Recreation" trifft dieses Licht mit fast ungebrochener Wucht auf den sich ausdehnenden Raum und macht ihn damit begehbar. Spürbar. Eigentlich schaut man seinem eigenen Universum beim Urknall zu.


 



Erschienen auf Past Inside The Present, 2024.

05.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 15: Salvatore Mercatante - Ø




SALVATORE MERCATANTE - Ø


"I like the idea that something’s rare and ‘unobtainable’, and that’s all fine and good and all that shit. But I’m not making this music for the records to sit on the shelf; they’re meant to be heard and shared with other people, they’re meant to be danced to, to be played so much they get worn out and you gotta buy another copy; that’s why I re-press!" (Theo Parrish)


Schon der erste Ton des Openers "OPEN, OPEN" ist ikonisch. Und er ist laut. Er schafft Aufmerksamkeit, Bewusstsein für das, was kommt. Über die nächsten vier Minuten des Tracks bleibt das Thema im Raum und schafft Weite und Tiefe, bevor sich weitere Türen öffnen und sich mittels bedrohlich nähernden Bassdrones erstmals die Farben drastisch ändern. Dunkelheit zieht ein. 

Das Spiel mit Licht und Schatten, Perspektiven und Brennweiten dominiert den weiteren Verlauf von Ø. Von Autechre-inspiriertem IDM, dem das Konzept immanent ist, mit minimalen Verschiebungen den maximalen Effekt der Expansion zu erreichen, über heavy duty Bass-Glitches mit dystopischer Soundtrack-Atmosphäre, trüb und kalt wirkenden Ambientexkursionen, über denen ein seltsam nostalgischer Grauschleier liegt, so als würde man in eine bereits gelebte Parallelwelt hineinschauen bis hin zu Unterwasser-Techno in "Coil", hat Salvatore das Konzept von Ø praktisch am lebenden Objekt durchgespielt: "How do you start from a place of nothingness, again and again?" 

Die erste Frage lautet möglicherweise, ob es denn diesen Ort des Nichts tatsächlich gibt, denn was hier aus jedem Beat, aus jedem Klick, aus jeder angedeuteten Melodie, aus jeder Spannung heraustropft sind Überzeugung und Klarheit. Sie sind das Substrat, aus dem Mercatante seine Tracks baut, sie verästelt - und sie immer weiter unnachgiebig verfeinert. Externe Einflüsse sind genau das: extern. Das Innere lässt sich hingegen weder aufhalten noch ausschalten. 


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2024.

03.01.2025

Best Of 2024 ° Platz 16: Arutani - Who We Used To Be




ARUTANI - WHO WE USED TO BE


"Unsere Existenzform ist die Rasanz. Das ist das Therapeutische am Leben im Medium des Smartphones. Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt. Alles Großaufnahme, alles äußere Steigungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften.” (Roger Willemsen)


Manchmal erwischt es mich einfach eiskalt. Und zwar mit einem Overkill an Wärme und Geborgenheit. Alles ist Herz, nichts ist Kopf. Arutanis viertes Album, seinem dritten auf Laut & Luise, rannte mir alle offenen Türen ein und wurde zu DER Sommerplatte des Jahres. So simpel es sich auch anhören mag, aber immer, wenn der Himmel rosarot, das Gras saftiggrün und der Kaffee heißschwarz war, wollte ich diese Platte auflegen. Besser noch: ich hab sie dann einfach aufgelegt, ha! Ich habe gerade auch gar keine Lust darauf, das mit besonders tiefsinnigen und verkopften Schachtelsätzen zu erklären, ich habe keine Lust auf Metaebene und gespreizte Metaphern. Weil ich gemerkt habe, dass die Wahrheit an sich viel einfacher ist. Es mag vielleicht etwas heikel sein, dafür die passenden Worte zu finden, aber so geht's einem eben von Zeit zu Zeit. Das Einfachste ist am Schwersten zu erklären. 

Sowohl Songs als auch Sound von "Who We Used To Be" sind - und jetzt kommt doch eine Metapher, fuck it - Wärmelampen für Herz und Seele. Introvertierte Tanzmusik für emotionale, reflektierte, melancholische, liebenswerte Menschen. Für innige Umarmungen. Für blindes Verständnis. Ich konnte mich nicht so recht dagegen wehren, dass sich hier und da dann doch der Kopf einschaltete und ein paar unangenehme Fragen stellte, sowas wie "Ist das nicht alles ein bisschen zu arg Weichzeichner? Willst Du nicht doch lieber die großen Geschichtenerzähler hören, die so ein bisschen artsy sind? Die kompliziert und ausschweifend sind, mit viel Tiefe und Raum?"

Das ist alles Quatsch. Weil: wie viel tiefer kann's denn noch gehen, als die direkte Verbindung dieser Musik zum eigenen Leben zu spüren? Und, bitte: Wie entwaffnender kann eine Wahrheit sein?


             



Erschienen auf Laut & Luise, 2024.