12.05.2024

Best of 2023 ° Platz 2: bvdub - Fumika Fades




bvdub - FUMIKA FADES


"Shoulder deep within the borderline" (Maynard James Kennan)


Ich bin immer wieder froh, kein echter Musikjournalist zu sein. Eigentlich bin ich ja nicht mal ein unechter. Bitte nicht als Koketterie missverstehen; was ich damit sagen will: ich bin Fan. Und das ist praktisch alles, was ich bin. Ich verbringe viel Zeit mit der Recherche, springe wie ein vom ADS-Affen gebissenes und bis unters Dach mit Crack vollgepumptes Eichhörnchen von einer Stimulanz zur nächsten, kaufe meine Schallplatten, höre, höre, höre, recherchiere weiter - wer hat mit mit wem gespielt und gesprochen, wo wurde das aufgenommen, wer hat die Kabel aufgerollt und das Essen gebracht, wer produzierte, wer hat das Coverdesign gestaltet - und wenn alles gut läuft, schreibe ich irgendwann mal darüber. Nun bin ich in manchen Fällen ein bisschen mehr als nur ein Fan. Es wird mitunter ein bisschen ernster. 

Wenn beispielsweise Brock van Wey, Ludvig Cimbrelius oder Agus Mena neue Musik veröffentlichen oder wenn ein neues Album auf A Strangely Isolated Place ansteht, dann weiß ich um die Wichtigkeit, diese Musik in mein Leben zu lassen. Weil ich weiß, dass sie wie ein Kompass für ein besseres Leben funktioniert. Es ist Reinigung, Re-Kalibrierung, Erinnerung. Und ich versuche, von diesen Erfahrungen, die sich in der Auseinandersetzung mit dieser Musik entwickeln, so viel wie möglich in meinen Alltag zu integrieren. Hochgefühle erleben. Weniger, weil ich unentwegt im Endorphinrausch existieren will, sondern weil ich die Reminiszenz an jene Wahrnehmungen benötige, die mein Leben bereichern, anstatt vom stumpfen Getöse des Alltags geflutet zu werden. Es ist echtes Lebenselixier.

Nun sind Künstler wie Brock, Ludvig und Agus, als auch Labelmanager wie Ryan Griffin ausgesprochen umtriebig. Sie veröffentlichen mehrmals im Jahr neue Musik und ich versuche, immer auf dem Laufenden zu bleiben und den Überblick zu behalten - angesichts der Menge ihres Outputs gibt es indes leichter zu meisternde Herausforderungen. Und selbst wenn mir das gelänge, muss das dann nicht auch immer alles für die Bestenliste herangezogen werden? Und ich meine...wirklich alles?! Dabei sag ich's doch die ganze Zeit: wenn doch alles so toll, wichtig, überwältigend, inspirierend ist, dann ist es nicht nur naheliegend, sondern gar zwingend erforderlich, die Top 20 mit ihren Platten zuzuballern. Oder ist es am End' doch etwas komplizierter?

Freilich ist es das. Ich könnte von den neun (!) Alben, die Brock unter seinem bekanntesten Projekt bvdub im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, alle in DIE_LISTE aufnehmen, aber was passiert dann mit den anderen 60 Platten, die mir 2023 zu neuen Mitbewohnern wurden? Und wenn ich gerade eh schon dabei bin, das Thema unnötig zu verkomplizieren: wie zum fickenden Fick wähle ich aus den neun Platten denn die "richtige" aus, ohne es komplett beliebig werden zu lassen? 

In meinem Buch gab es im Jahr 2023 zwei herausragende bvdub-Alben. Das eine ist "Days Of Gold", erschienen auf dem englischen Label Quiet Details und ist in der Ansprache so deutlich anders als so ziemlich alles, was Brock bislang zusammenstellte, dass alleine jener Umstand wenigstens eine Erwähnung an dieser Stelle notwendig macht. "Days Of Gold" ist euphorisch, ausgekleidet mit goldenem Funkenregen, hell, expansiv, einnehmend. Ich bin stets aufs Neue verblüfft, wie sehr es die Atmosphäre im Raum manipuliert, ins Humaninterieur hineinkriecht und dort herumwirbelt.  

Das andere unbedingt erwähnenswerte und also zu lobende Werk ist "Fumika Fades", als Vinyledition auf EC Underground erschienen und ähnlich wie "Days Of Gold" geprägt von einigen Merkmalen, die nicht alle Tage auf Alben von bvdub zu finden sind. Die vier langen, rund um die 20 Minuten-Marke endenden Tracks sind nicht nur überraschend abwechslungsreich und zeigen trotz des nach wie vor sehr ambienthaften Charakters etwas deutlicher ihre Wurzeln in der elektronischen Tanzmusik, sie sind auch mit Bedacht kuratiert und offenbaren aus 2000 Fuß betrachtet einen Spannungsbogen, der viel zur Dynamik und Intensität des Albums beiträgt. Anders als die stets subtil inszenierten House-Flashbacks, die sich auf nicht wenigen Songs von Brock finden lassen und vielleicht am stärksten auf seinen Arbeiten als Earth House Hold heraustreten, sind die zusätzlichen Jungle und Breakbeatelemente auf "Fumika Fades" der Gamechanger. Der Einstieg mit "Fade To Flow" gerät noch ziemlich traditionell und verläuft im Rahmen dessen, was man mittlerweile von einem bvdub Album erwarten darf, bekommt aber im letzten Viertel bereits die ersten, hier noch diesig verhuschten, Breakbeats ins Soundbild tapeziert. Die folgenden "Fade To Find" und "Fade To Feel" nehmen die Spur auf und drehen sowohl die pastoralen Momente seiner Musik, die sich so oft als Offenbarung im Sinne einer schier endlos verlaufenden Erlösung zeigen, als auch den Fokus auf den Rhythmus und das Flackern ein paar Grad nach oben. Das abschließende "Fade To Fall" äschert dann sämtliche im Vorfeld eh schon wackligen Grenzen und Hüllen ein: das betörende Vocalsample, die mäandernden Pianotupfer und der immer präsenter werdende Beat verfolgen allesamt nur ein Ziel: Eindringlichkeit. 

Für die Bewusstheit über die höchsten Höhen - und die tiefsten Tiefen. Für alles mittendrin. Für alles Äußere. Für alles Innere. Für die Erinnerung an den eigenen Herzschlag. Für die Unendlichkeit.


             



Erschienen auf EC Underground, 2023. 

04.05.2024

Best of 2023 ° Platz 3: Rod Modell - Ghost Lights




ROD MODELL - GHOST LIGHTS


"You can't play that with your fingers, motherfucker!" (Stewart Copeland)


Irgendwann erwischt es Dich. Irgendwann kommt der Moment, an dem Du aufschreckst. Alles stehen und liegen lässt, zwei oder zweihundert Meter Abstand einnimmst, Deinen Hals nach hinten streckst und versuchst, das Bild, die Situation so schnell wie möglich einzuordnen. "Was war das denn eben gerade?" - und im Grunde ist die Dechiffrierung zum Scheitern verurteilt. Denn das Bild, das Rod Modell auf "Ghost Lights" aufreißt, ist riesig. Das Panorama ist überwältigend. Ganzheitlich und immersiv. 

Alles ist in Bewegung. Alles passiert im Zeitraffer. Alles dehnt sich in Zeitlupe. 

Mit "Ghost Lights" taucht die Dubtechno-Ikone und der Gründer von Echospace zum wiederholten Male auf Astral Industries auf. Seine Geschichte mit dem Londonder Spezialistenlabel geht zurück ins Jahr 2014, als er mit seinem Deepchord-Alias und dem Album "Lanterns" die Katalognummer AI-01 stellte und umgehend einen großen Erfolg verbuchen konnte - das Konzept, "Lanterns" lediglich als einmalige Vinylpressung für einen damals absolut obszönen Betrag von 40 Euro zu vermarkten - "NO REPRESS, NO DIGITAL" - nur um ein paar Jahre später den Repress und die digitale Version dann eben doch anzubieten, treibt mich selbst zehn Jahre später noch in einen veritablen Tobsuchtanfall. Nur damit wir das mal klar haben, dass kapitalistische Fuckups einen fluffigen Flutschi auf Genres oder die Glaubwürdigkeit von Labels (lol, jetzt bleibense mal ernst!) geben. Eigentlich gehört dieser ganze Scheißhaufen ja bis ans Ende aller Tage gnadenlos boykottiert - oder wir halten fortan wenigstens die Klappe, wenn ein lieblos zusammengestümperter Repress für 50 Euro - mit den berüchtigten moralischen Bauchschmerzen, logo! - zunächst ver- und anschließend wie an der Schnur gezogen gekauft wird. Aber wie wir sehen: Herr Dreikommaviernull ist immer noch da, streichelt apathisch lächelnd seinen "Lanterns" Firstpress, quietschfidel und zugekleistert mit prätentiöser Egowichse. Um diese kognitiven Gräben zuzuschütten, reicht der ganze verkackte Sand dieser Welt nicht aus. Apropos Sand: wir haben ja eh schon Sandmangel! 

Jedenfalls: die vier überlangen Kompositionen auf "Ghost Lights" zeigen Modells Exkursionen in die Unterwelt des Ambient. Kein Beat, kein Puls - wobei, das ist nicht ganz richtig. Den Puls gibt es, aber er liegt erstens praktisch unter der Wahrnehmungsgrenze, weil er zweitens im Grunde unter die kompletten 70 Minuten Musik gespannt ist und sich damit nur im angesprochenen Panorama zeigt. 

Im Zoom hat Modell seine berüchtigte "Großstadt bei Nacht"-Ästhetik auch ohne die hörbare Kickdrum auf die musikalische Leinwand gezaubert und dabei die Frequenz der Bildfolge auf das Maximum erhöht. Versteckte und dunkle Nischen, abgelegene, unheil versprechende Ecken, Sackgassen, Regen und nasse Straßen, der aus der Kanalisation aufsteigende Dampf, die roten Rücklichter der durch die Straßen schwebenden Raumschiffe, der sich räuspernde Donner aus der Ferne, das maschinelle Grundrauschen aus den Fabriken und Kraftwerken. Das ist nicht immer nur angenehm zu hören. 

Es ist der manchmal aus tiefsten Tiefen grummelnde Bass, der einem geradewegs die Haare zu Berge stehen lässt. Es ist die Leere, die entsteht, wenn zwar der Film ruht, der Blick jedoch immer noch auf der Suche ist und außer Unbehagen nichts findet. Es ist das schwingende Echo einer vom Ende der Welt angeschlagenen Glocke. Der Vogelschrei, der sowohl Verzückung wie Agonie bedeuten kann. Und wer ganz tief in Modells Welt eintaucht, wird vielleicht auch auf Probleme mit der Einschätzung von Nähe und Distanz stoßen. Denn je kleiner der Ausschnitt, oder je nach Interpretation: der Abgrund ist, in den wir hineinblicken, desto mehr hat unser Gehirn mit der Verarbeitung der schieren Menge an Eindrücken, Reflexen, Effekten zu tun. 

"Ghost Lights" ist keine Hingabe an den Rückzug, es ist eine Ode an die Auseinandersetzung und die Überforderung.


 


Erschienen auf Astral Industries, 2023.