Impressum

16.11.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #173: The Necks - Hanging Gardens




THE NECKS - HANGING GARDENS


"Where is the border between composition and improvisation? I think if you’re a good musician, and I hope some of us are, the border is not there anymore. Because if you have feelings, and you’re able to listen to what others do, and if you create a kind of form – and it can be an open form – then you’ve got something. You really don’t know what you’re going to do in the middle, but it happens and it comes to an end and you have a feeling, “Okay, that’s it.” 
(Peter Brötzmann)


Vor etwas mehr als 20 Jahren war ich derart kolossal von zeitgenössischer Rockmusik gelangweilt, dass nahezu jede sich öffnende Tür zu neuen musikalischen Räumen als Eintritt in eine neue Welt gefeiert wurde. Alles war Erneuerung, alles war Öffnung, alles war Freiheit. Und alles war gleichzeitig auch dünnes Eis, weil meine Rock-Sozialisation zwar dafür sorgte, alles über Gitarrenriffs, Band-Stammbäume, Langhaarpflege ("Nur die Spitzen, bitte!") und Flanellhemden zu wissen, aber nicht mal den Hauch einer Ahnung zu haben von der Improviation des Jazz, dem Selbstverständnis der elektronischen Musik, den Wurzeln des Hip Hop und sowieso all of the above. Das Neue kam also mit einer Lawine aus Fragezeichen. Und das machte mir Angst, weil ich auf unbekanntem Terrain herumgewirbelt wurde und wortwörtlich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. Ich war kein "eXpErTe" mehr, der den zwielichtigsten Untergrundhaufen aus einer Garage auf Long Island kannte; ich war plötzlich ein völlig planloser N00b. Und wie oft in ähnlichen Situationen ging ich nicht langsam und bedacht ins tiefere kalte Wasser, sondern schaute dabei zu, wie mir Freunde ein Loch ins arktische Packeis sägten und mich anschließend hineinschubsten, meine: ich hatte keinerlei Interesse an einer behutsamen Heranführung, an passenden Einstiegspunkten, an Geschichtswissen. Ich wollte sofort den abstraktesten, abgefucktesten, sperrigsten Scheiß. Eines meiner ersten Elektronikalben war Autechre's "Untilted". If you know, you know. Und wer jetzt anerkennend die Augenbrauen hochzieht, dem sei versichert, hier keinen Raum für Selbstvertrauen und -überschätzung zu finden. Denn ich verstand: Nichts. Null. Zero. All das, was mir jahrelang Magazine wie das Rock Hard oder der Metal Hammer über Rockmusik vermittelten, holte ich mir jetzt mit einer überwältigenden Dosis Demut bei meinen Packeis-Freunden: "S...sag mal, ist das denn alles tatsächlich "komponiert" oder ist das bloß Zufall?" - als ob's darauf ankäme. So bescheuert sich so manche Frage auch anhören mochte, alles half beim Brücken bauen. 

Und wie man an diesem schmerzhaft extensiven Prolog zu den Necks erkennen kann, baue ich selbst heute noch an diesen Brücken herum. Dass ein Teil des just verwendeten Baumaterials aus elektronischer Musik besteht und ich ausgerechnet Autechre als Referenz heranzog, mag auf den ersten Blick ein wenig waghalsig bis kokett wirken, denn formal ist das 1987 im australischen Sydney gegründete Trio mit Chris Abrahams (Piano), Tony Buck (Schlagzeug und Gitarre) und Lloyd Swanton (Bass) wohl eher im Jazz als im Elektrogefummel zu verorten. Aber kaum schreibe ich "formal", wird's wieder schnell peinlich, weil was ist denn bitt'schön "formal" bei den Necks? Eben: gar nichts. Außer vielleicht dieser einen Sache: seit ihrem Debut "Sex" aus dem Jahr 1989 verfolgt die Band zumeist einen beinahe schon zeremoniellen Ansatz, indem sie ihre Alben aus einem einzigen, zwischen 50 und 70 Minuten dauerndem und improvisiertem Stück formt. Es gab zwar hier und da ein paar Ausnahmen, und seitdem das Trio im Rahmen des Vinyl-Booms damit begann, auch Schallplatten zu produzieren, sind diesbezügliche Öffnungen häufiger geworden, aber das war (und ist) wenigstens eines ihrer Markenzeichen. 

Stilistisch ist hingegen seit der Stunde Null alles im Fluss. Ist es Jazz? Ambient? Electronica? "Schonmal was von Schnittmengen gehört?" (Pispers), jedenfalls: was Schlagzeuger Tony Buck auf "Hanging Gardens" abzieht, könnte die selbe Frage wie seinerzeit bei Autechres "Untilted" provozieren, nur improvisiert hier ein Mensch auf einem echten Schlagzeug - was am Ende des Tages die ohnehin nicht von besonderem Intellekt bestrahlte Zielrichtung der Frage "Komponiert oder Zufall?" noch sinnloser macht. Bucks filigrane Schlagzeugarbeit im Allgemeinen und die Percussions im Speziellen sind komplett irre und mir fehlt auch nach nunmehr drei Jahrzehnten als zugegebenermaßen sehr unterdurchschnittlicher Musiker immer noch jedes Verständnis dafür, wie das geht. Die Technik ist das eine - und nur, damit wir uns richtig verstehen, auch dazu fällt mir freilich nur sehr wenig ein - aber diesen Instinkt, die Auffassungsgabe, das Nachverfolgen und Umschalten in Sekundenbruchteilen zu beobachten und damit selbst so tief in dieses Gestrüpp einzutauchen, bis man in gewisser Weise selbst ein Teil dessen wird, ist das andere. 

"The concept of The Necks is to not really know where we’re going. To have the music unfold while we’re doing it. And for us to react to that unfolding while it’s happening, and for that feedback to happen. And so the music is being constructed whilst being informed of itself as it’s happening, so to speak. I mean, we don’t ‘trial’ things really. You know, we play.“ (Chris Abrahams)

"Hanging Gardens" basiert im Grunde auf einem simplen Basslauf und einer ebenso simplen Pianofigur, um die mehrere Ebenen Schlagzeuggezischel und Trommeltürme drapiert werden, die alle gemeinsam über den Verlauf der 60 Minuten immer wieder an sehr subtilen Perspektivwechseln arbeiten, ohne dabei das hypnotische, meditative Element der Musik zu stören. Bassist Lloyd Swanton verglich diesen Effekt einmal mit einer sehr langen Autofahrt, auf der man die Veränderungen in der Landschaft im jeweiligen Moment nicht erkennt, bis man nach 30 Minuten der Ablenkung wieder hochschaut und feststellt, dass sich draußen plötzlich alles verändert hat; die Modulation wird also fast immer nur im Rückblick wahrgenommen. Es gehört zu den großen musikalischen Glücksmomenten meines Lebens, diesem Grad der Verdichtung nachzuspüren, weil es Auseinandersetzung und Vertiefung voraussetzt. Vielleicht braucht's gerade in Zeiten des ständigen Getöses und Dauerfeuers auch den Willen zum Rückzug und zur Vereinzelung. Die Necks nehmen Dich gerne in ihren Zirkel auf. 


Vinyl und so: Die Band hat ab 2011 damit begonnen, neue Musik auch auf Vinyl verfügbar zu machen. Die vor 2011 erschienenen Alben gibt es allerdings bis heute nur in den Originalversionen auf CD und mir liegen keine Informationen vor, ob die Necks Pläne haben, diesen Umstand zu ändern. Ich verstehe, dass einige Fans reflexartig nach einer Veröffentlichung auf Vinyl krähen, und im Falle eines Falles krähe ich hier und da auch mal gerne mit, ob es angesichts der oft einstündigen Tracks allerdings so erstrebenswert ist, die Trance ihrer Stücke zu unterbrechen, um die Platte umzudrehen, darf wenigstens bezweifelt werden. Würd' ich's trotzdem kaufen, wenn die Schallplatten kommen? In a fuckin' heartbeat!


Weiterhören: "Aether" aus dem Jahr 2001 und "Silverwater" von 2009.





Erschienen auf Fish Of Milk, 1999.

08.11.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #174: Depeche Mode - Songs Of Faith And Devotion




DEPECHE MODE - SONGS OF FAITH AND DEVOTION


"Unter der Herrschaft des Kapitals ist alles Ware und muss für Geld zu haben sein: Autos, Bananen, Waffen, Exportlizenzen, Parteien, Abgeordnete, Minister, Präsidenten, Professoren, Zeitungen, Enthüllungen, Stasiakten, Stasiaktenverwalter, Bänkelsänger, Meinungen, Männer, Frauen. Was so anklägerisch klingt...ist durchaus ein zivilisatorischer Fortschritt: Geld regelt, was in einer Gesellschaft der Ungleichen sonst mit Gewalt geregelt werden müsste." 
(Hermann L. Gremliza)


Vorbemerkung: Die Herzallerliebste erkennt jeden Song von Depeche Mode bis einschließlich jene vom Album "Ultra" nach etwa drei zehntel Sekunden. Ich finde das zu gleich Teilen schockierend und schockierend. Und weil es somit einfach keine bessere Person gibt, das Review zu "Songs Of Faith And Devotion" zu schreiben, habe ich die Herzallerliebste darum gebeten, eben das Review zu "Songs Of Faith And Devotion" zu schreiben. Erfreulich: sie hat zugestimmt. Sie lesen nun also einen Gastbeitrag von Super-Schnibi. Enjoy!


Rückblick auf Mitte 1983 - mein frisch mit blauer Wolkentapete verkleistertes Zimmer - vor meinem Kassettenradio - aufgeregt wartend, dass die angekündigte neue Single "Everything Counts" gespielt wird, damit ich auf den "Record"- und "Play"-Knopf gleichzeitig drücken kann. Natürlich labert der Radiomoderator am Schluss rein. Aber ich habe es auf Kassette und kann morgen in der Schule damit angeben. Und jetzt auch noch mal.

Als Flow mich gestern fragte, was denn wohl mein Lieblingsalbum von Depeche Mode wäre, wusste ich intuitiv, dass es "Songs Of Faith And Devotion" ist. Aber ich musste sichergehen, und so haben wir gemeinsam alle Alben im Schnelldurchlauf Revue passieren lassen. "Songs Of Faith And Devotion" hat Tiefe, die auf früheren Alben nicht so weit im Vordergrund stand. Musikalische Tiefe durch die für Depeche Mode damals "REVOLUTIONÄRE!!!" Öffnung für analoge Instrumente und das menschliche Element der Imperfektion. Martin Lee Gore sorgte für lyrische Intensität mit Wanderungen durch die schattigen Höhlen seines Daseins. Dave Gahan sang diese Texte dann mittels einer mit Heroin getäfelten Stimmritze ein. Nicht zuletzt sind Alan Wilders Soundstrukturen voll abgestimmt auf den selbstzerstörerischen Vibe. Mehr Bass, mehr Verzerrung, mehr Rock, mehr Roll.

Das Album und der Zustand der Band und ihrer Mitglieder passen in die Zeit Anfang 1990, geprägt von Drogen und Verzweiflung, hoffnungslos der eigenen Unzulänglichkeit ausgeliefert. Alles selbstsezierend, dunkel und kaputt. Das Lebensgefühl also recht ähnlich wie heute.

Anders als zur damals zeitgenössischen Weltuntergangsmusik kann man zu dieser Depression jedoch gut tanzen. Das Phänomen der deutschlandweiten Depeche Mode-Partys liegt wahrscheinlich genau darin begründet. Mild abwegige/abartige Texte mit tanzbaren Beats unterlegt. Durch die Jahrzehnte der wilden Kindheit/Adoleszenz und Erwachsung waltzend. Angereichert mit genretypischen Stücken aus den dunkelbunten 80ern. 

"Um die früheren Werke zu mögen, muss man dabei gewesen sein." (Herr Dreikommaviernull). 

Ab "Black Celebration" kann man auch ohne viel Cringe mittanzen. Ich freue mich schon auf die nächste Depeche Mode-Party. Für mich ganz ohne Cringe.



Vinyl und so: Mittlerweile sind die klassischen Alben von Depeche Mode fast permanent und in mehreren Versionen von gleich mehreren Herstellern/Labels auf Vinyl verfügbar - und oft auch noch zu überraschend anständigen finanziellen Konditionen. Mein Exemplar aus der 2016 erschienenen "Legacy"-Reihe hat ein sehr schön anzuschauendes (aber furchtbar zu fotografierendes, ähem!) Glossy-Gatefold-Cover mit Liner Notes und Texten auf schwarzem Vinyl und klingt großartig. Obacht vor der Flut von Bootlegpressungen - es gibt wahrlich genügend offizielle und gut klingende Versionen, sodass die Bootlegs eigentlich völlig überflüssig sein sollten.


 



Erschienen auf Mute, 1993.

02.11.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #175: Coroner - Grin





CORONER - GRIN


"Don't you know you adore
An eagle with broken wings
Roses that never bloom
Wheels that never spin
Bells that never ring
Hands too far to reach"
 
(Coroner, "The Lethargic Age")


Coroner galten stets als europäisches Äquivalent zu einer Band wie Voivod. Beide Bands fanden ihre Wurzeln in der Ursuppe der aufkeimenden Speed und Thrash Metal-Bewegung der ersten Hälfte der 1980er Jahre, begannen aber sehr schnell damit, in progressive, technisch ambitionierte Bereiche auszuschlagen. Künstlerisch waren sie damit der Konkurrenz in ihren jeweiligen Kontinenten immer zwei, drei Schritte voraus, kommerziell hingegen kamen sowohl Voivod als auch Coroner nie so recht über ein "Nischendasein mit Kultstatus" hinaus. Es ließe sich zwar darüber reden, ob sich Coroner jemals so weit aus der Komfortzone herauslehnten wie das kanadische Quartett auf Alben wie "Nothingface" oder "Angel Rat", aber spätestens mit ihrem 1989er Album "No More Color" war immerhin klar, es hier nicht mit einer Thrashkapelle von der Stange zu tun zu haben. Der 1991er Nachfolger "Mental Vortex" vertiefte die eingeleitete Entwicklung nicht nur hinsichtlich immer komplexer werdenden Arrangements, die Band legte auch deutlich mehr Wert auf die im Thrash Metal oft brach liegenden atmosphärischen Zwischenebenen.

Mit "Grin" bekam jener Aspekt größeren Raum als jemals zuvor eingeräumt. Wurde ein Großteil der früheren Intensität vor allem durch die Mischung aus Geschwindigkeit und schierer Überforderung mittels diffiziler Kompositionen erzielt, verdichtet "Grin" den musikalischen Raum mit Monotonie und Groove. Und einer, man muss das so sagen, überaus strengen und dominanten Ansprache von Sänger Ron Royce. Wer sich früher demütigen lassen wollte, ging mal schnell aufs Straßenverkehrsamt, heute lässt man sich von Royce verbal auspeitschen - und zwar mit überzeugter Boshaftigkeit. Das ist zweifellos eine beeindruckende Performance, aber da muss man schon der Typ für sein. 

Es mag zunächst ein bisschen widersprüchlich erscheinen, aber indem das Trio ihren Songs mehr Platz lässt, verstärkt sich gleichzeitig das Gefühl der Enge; ein Stilmittel, das sich Coroner ganz eventuell bei einer Band wie Ministry abgeschaut haben könnten, deren damals gerade aktuelles Album "Psalm 69" sehr erfolgreich Industrial mit Metal vermischte und zu einem der Meilensteine des damaligen Zeitgeists wurde. Im Grunde durchliefen Coroner eine ähnliche Entwicklung wie beispielsweise Sepultura von "Arise" zu "Chaos AD" oder auch Morgoth von "Cursed" zu "Odium", indem sie einen Ausweg aus der kreativen Sackgasse des klassischen Thrash und Death Metals suchten und ihn im Groove fanden. Coroner machten in dieser Hinsicht mit "Grin" möglichweise den größten Sprung, aber sie waren auch besser vorbereitet: die mit "No More Color" und "Mental Vortex" eingeleitete Entwicklung ist vor allem im Rückblick völlig plausibel und folgerichtig. 

"Grin" ist tiefschwarz, kalt, abgründig, klaustrophobisch und unangenehm. Wer all das in seiner Essenz überprüfen möchte, ist eingeladen, sich dem am Ende des Albums platzierten Dreiklang aus "Paralized, Mesmerized", "Grin (Nails Hurt) und "Host" zu widmen. 

A lesson in punishment. 



Vinyl und so: Über die Erstpressung von 1993 darf man sprechen, wenn Aussicht auf eine schöne Erbschaft besteht, ansonsten versucht man es mit dem Reissue (Doppel-LP, grünes Vinyl) aus dem Jahr 2018 und ist mit schlappen 30 Euro dabei. Ich möchte hier allerdings darauf hinweisen, dass der Sound der letztgenannten Version signifikant angepasst wurde. Auf Discogs beschrieb ein Nutzer den Unterschied mit "komplett veränderter Ästhetik" und liegt damit ziemlich richtig. Die Bässe wurden deutlich reduziert, zeitgleich hat man die Mitten verstärkt. Das führt zu einem giftigeren Gitarrensound, einer heller klingenden Snare und einem dadurch insgesamt deutlich klareren, transparenteren Klangbild. Ob das dem Album nützt oder schadet, beantwortet das eigene Stilempfinden. Aber wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es in erster Linie anders ist.


 


Erschienen auf Noise Records, 1993.