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29.05.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #200: War Babies - War Babies




WAR BABIES - WAR BABIES


"Laminated Face Cunt." (Bill Burr)


Wer sich eingehender mit dem 1992 erschienenen Debutalbum dieser Seattle Band beschäftigt, mag erahnen, dass das medial gesetzte Narrativ, die Musikszene der Stadt im Nordwesten der Vereinigten Staaten habe sich Anfang der 1990er Jahre als kleines gallisches Dorf gegen die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der Schwanzrockszene aufgelehnt, nicht viel mehr ist als besinnungsloses Business-Kladderadatsch. Die Band um den ehemaligen TKO-Sänger Brad Sinsel hatte, ähnlich wie die frühen Alice In Chains, eine deutliche Schlagseite zu klassischem Glam- und Hardrock der achtziger Jahre, mischte dazu allerdings Elemente unter ihren Sound, die man in die Nähe dessen rücken kann, was Mother Love Bone auf ihrem legendären Debut "Apple" aufzogen. Los Angeles und Seattle in seltener Eintracht. Dabei waren die War Babies bestens in die Szene Seattles integriert und spielten im Laufe ihrer Karriere regelmäßig Shows mit den späteren Grunge-Superstars. Selbst Jeff Ament von Pearl Jam war hier mal mit von der Partie, und War Babies Schlagzeuger Richard Stuverud spielte ein paar Jahre später mit ebenjenem Ament auf den beiden Alben von Three Fish (mit Robbi Robb von Tribe After Tribe). 

Der Ofen war kurz nach Veröffentlichung des Albums leider sehr schnell wieder aus, und natürlich sind Band und Album heute längst von jedem Radar gerutscht. Wer seinen Beobachtungsradius für die Musik der Neunziger im Allgemeinen und Seattles im Besonderen indes etwas erweitern möchte, darf sich gerne kopfüber in diese Platte stürzen. 


Vinyl und so: Bislang hat sich noch niemand zu einem Vinyl-Reissue entschließen können, weshalb die Originalpressung heutzutage nur noch schwer und/oder für einen Haufen Geld zu bekommen ist. Bei der CD gibt es keine Probleme. Darüber hinaus erschien im Jahr 2024 unter dem Titel "Vault" eine LP mit Studio-Outtakes und Livemitschnitten, die sehr liebevoll zusammengestellt wurde, aber mittlerweile auch immer seltener zu finden ist.


          



Erschienen auf Columbia Records, 1992


25.05.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - Die 200 Besten Alben Der 1990er Jahre





"Mal sehen, ob und was uns dort erwartet." (Lothar Matthäus)



Liebe Leserin, lieber Leser,

Es ist an der Zeit, die vor einem knappen halben Jahr in einem kleinen Text verstohlen untergebrachte Ankündigung, den Countdown über die 200 besten Platten der neunziger Jahre auf meinen Blog zu wuchten, endlich in die Tat umzusetzen. 

Und mir geht der Arsch auf Grundeis. Weil das Vorhaben auf mehr als nur einer Ebene so unüberwindbar groß erscheint, dass ein Scheitern praktisch vorprogrammiert ist. In meinem Kopf arbeite ich seit etwa vier Jahren an dieser Aufstellung, in der eisigen Realität mittlerweile unzähliger Excelsheets stehe ich seit gut zwei Jahren im ölverschmierten Blaumann im Maschinenraum der Plattensammlung und prokrastiniere fröhlich vor mich hin. Und ich wünschte noch immer, es handele sich hierbei um eine schamlose Übertreibung.  

Das große Fass mit den Feigenblättern in allen vorstellbaren Größen war mir in dieser Zeit stets ein treuer Begleiter, denn es muss immer Gründe dafür geben, das Projekt weiter auf die längste Bank der Welt zu schieben. Habe ich etwas vergessen? Ich habe doch ganz bestimmt etwas vergessen?! Muss das Album nicht auf einer viel höheren Platzierung stehen? Und warum überhaupt "Platzierungen"? Tut's nicht auch eine Sortierung nach dem Alphabet? Oder nach den Erscheinungsjahren? Pah, Sortierung my ass - ich würfel den Kram einfach aus. Als ob es wirklich irgendwen interessiert, ob eine Platte auf Platz 121 oder 118 steht, ist doch alles Blödsinn. Und dann erinnere ich mich an diese eine berüchtigte 90er Liste des Online-Magazins Pitchfork, in der Holes "Live Through This" vor Nirvanas "Nevermind" stand, und der Griff reflexartig zum Handy ging, um die Notfallnummer für akute Schlaganfälle zu wählen. Will ich mir wirklich einen solchen Quadratquatsch antun? 

Natürlich will ich das, und zwar extradreckig. Zu Beginn delirierte ich noch mit dem Plan durchs Leben, 50 Platten seien ja wohl locker ausreichend. Und als der erste Entwurf fertig war, "erkannte ich, dass das keine Lösung war" (Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen). Also gut, drehen wir den Spaß auf 75 hoch. Hm, 100 sind besser. Okay, 150. Aber jetzt ist Schluss, ich kann hier ja nicht jeden halbsteifen Mist, den irgendeine verwahrloste Band...200! 200 müssen es sein. Eigentlich ja eher 250. Grundgütiger, da fehlt ja immer noch was. Gehen auch 300? Alter, das liest doch kein Mensch. Vor allem, weil ich den ganzen Kladderadatsch nie werde schreiben können, 300 Reviews?! LOL! Also wieder beischneiden, unter Schmerzen und mit einer Überdosis Magentabletten. Das Spiel ging monatelang. Da kann man mal sehen, welche Verwüstungen so eine herbeihalluzinierte Hybris hinterlassen kann. Und gleichzeitig, der Wahrheit sei besonders an dieser Stelle die Ehre gegeben, machte das doch alles einfach unfassbar viel Spaß. Es ist alles wirklich komplett egal und irrelevant und völlig nutzlos aufgeblasen, aber ich kann damit monatelang einen Endorphin-Gangbang von epischen Ausmaßen in Superzeitlupe erleben. 

Dabei hilft es freilich, dass wir hier über die neunziger Jahre sprechen, mein Jahrzehnt. Wenn auch der musikalische Urknall zunächst mit Roland Kaiser in den frühen 1980ern initiiert wurde und sich von dort bis zum Ende des Jahrzehnts weiter zu Iron Maiden, Motörhead, Anthrax, Megadeth, Slayer und Venom verästelte, kann ich die Bedeutung der 1990er Jahre auf meine weitere Entwicklung kaum angemessen in Worte fassen. Das beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf die Musik, die ich zu jener Zeit hörte, zumal sie so oder so unmöglich aus dem soziopolitischen Strom herauszufiltern wäre, weil alles aus Verbindungen und Abhängigkeiten zueinander existiert. Das formte sowohl den damaligen Zeitgeist als auch die jahrzehntübergreifenden Narrative der Dekade: Anything Goes. Existenzielle Freiheit. Minimalismus. Bewusstheit. Aufbruch. Und das hatte Auswirkungen. 1993, ich war noch 15 Jahre alt, outeten sich fünf meiner Freunde als schwul. Sie hatten allesamt das verbindende Gefühl, dass die Akzeptanz ihres Umfelds größer war als zuvor, dass es sicherer war, sich selbst und -bewusst zu leben. Das war keine Selbstverständlichkeit. Und ich wuchs in den kommenden Jahren mit ihnen auf. Wir sprachen darüber, was ihre Sexualität für sie und ihre Familien bedeutet, über ihre Ängste, ihre Hoffnungen, auch ihr Liebesleben. Ich ging mit ihnen zu schwulen Kneipenabenden im Frankfurts Regenbogenviertel. Das war qualitätsstiftend, weil es etwas in eine Erfahrung übersetze, die es zuvor in meinem Leben nicht gab. Roger Willemsen sagte mal, dass "wir uns gesellschaftlich glaube ich einig sind, dass Vorurteile immer nur dort entstehen können, wo Anschauung fehlt. Je mehr wir Anschauung erweitern und vertiefen, um so weniger wird es möglich, sich zu befeinden oder von etwas abzugrenzen." Es öffnete meine Welt. 

Die Musik der Neunziger war für all das der Soundtrack und zugleich der Fixpunkt, sie gab Orientierung und Bestätigung. Am wichtigsten von all dem: ich identifizierte ich mich mit ihr, mit ihrer Ästhetik, ihrer Ideologie und ihrer Überzeugung. Das bedeutete auch, an dem selbst ohne den heutigen Wahnsinn von Social Media ordentlich aufgepeitschten Konflikt zwischen den Anhängern der "alten" Musik und des "modernen" Alternative Rocks nicht teilzunehmen. Ich hörte Morbid Angel und Alice In Chains, Great White und Soundgarden, Nirvana und Dark Angel. Ich kaufte mir im Jahr 1993 das Comebackalbum von Grave Digger "The Reaper" und das Debut der Stone Temple Pilots. Ich ging zu Benediction und Atheist ins Frankfurter Negativ und sah Bad Religion in der völlig (VÖLLIG!) austickenden Hugenottenhalle in Neu-Isenburg. Auf der Hinfahrt hörte ich "Superjudge" von Monster Magnet und anschließend "Definitely Maybe" von Oasis. Ich hörte Pulp und anschließend Metal Church. Didn't give a flying fuck. Auch das war identitätsstiftend, und ging damit sogar über die eigentliche Musik hinaus. 

In jenem Geiste verfuhr ich folgerichtig auch für die Auswahl der 200 besten Platten der 1990er Jahre, denn in welchem auch sonst? Ich bin kein Musikmagazin, ich muss weder ein möglich breites Spektrum von Stilrichtungen, noch die Gefühle der Leserschaft berücksichtigen. Das wird ein monatelanger Ego-Wank über meine ganz persönlichen Lieblingsplatten. 

Und ich freue, mich, wenn Sie, werte Leserin, werter Leser, mir dabei zugucken. Sie Ferkel*in.

Ich wünsche uns allen ein extradick ausgepolstertes Durchhaltevermögen und eisgekühlte Nervenstränge.

Let's Fuckin' Go!



03.05.2025

Sonst noch was, 2024?! (6): Nailah Hunter - Lovegaze




NAILAH HUNTER - LOVEGAZE


"I dream of beheadings and goose-feather bedding on fire" (Nailah Hunter)


Als vor vier Jahren die Debut-EP "Spells" der Harfenistin Nailah Hunter erschien, kam ich über verschlungene Pfade zum Plattensammlerportal Discogs, oder präziser: zu einer Rezension über "Spells", die sich ausnahmsweise mal nicht mit der Qualität der Vinylpressung, sondern tatsächlich mit der Musik auseinandersetzte. Ein Satz aus dieser Rezension lautete:

"Like taking acid and going to Rivendell."

Ich möchte offen sprechen: danach musste ich nicht mal mehr eine Reinhörvorrichtung bemühen, um die Platte umgehend in mein Warenkörbchen zu legen. Alleine ob der vagen Aussicht darauf, das Debut dieser US-amerikanischen Allrounderin könnte auch nur entfernt so klingen, wie es dieser eine Satz versprach, war also bereits ein veritabler Kontrollverlust einzukalkulieren. Aber es wurde sogar noch besser, als das Versprechen tatsächlich eingelöst wurde. Welch Raffinesse in der Gestaltung. Welch Gespür für die Instrumentierung. Außerweltlich. Außerkörperlich. Erneuerung. Expansion. Eine Platte wie ein Märchen aus einem verzauberten Wald, in dem alles Stoffliche zum Leben erwacht. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Eine fantastische Reise. Man reiche mir bitte die Pappen.

Drei Jahre später, Hunter ist mittlerweile zum Label Fat Possum Records gewechselt und hat die EP "Quietude" und einige Singles ihrer Diskografie hinzugefügt, erscheint ihr Albumdebut "Lovegaze" - und ich bin noch immer fasziniert von dieser Musik. Einiges wirkt aufgeräumter, im Sinne von klarer, als noch auf "Spells", vor allem hinsichtlich der sich deutlicher abzeichnenden Pop-Umrisse. Der vor diesem Hintergrund durchaus geschickt gewählte Einstieg mit "Sweet Delights" überrascht dann sogleich mit vollmundigem Pop- und Jazz-Appeal und erleichtert das Eintauchen in diese Platte. Denn, soviel sei gesagt: so geht's nicht unbedingt durchgängig weiter. Von weiteren Ausnahmen wie dem Titelsong oder "Garden" abgesehen, die melodisch greifbarer sind, baut Hunter ihre Kompositionen mit Hilfe komplexer und zugleich flüchtiger Arrangements, die der geheimnisvollen Ausstrahlung ihrer Musik stets weitere Ebenen hinzufügen. In "Through The Din" lamentiert Hunters entrückt wirkende Stimme über Trip Hop-Ruinen durch den Märchenwald, "Finding Mirrors" weckt mit schwüler LA-Hitze aufgeladenem Post-Soul Erinnerungen an das immer noch fantastische Debut von INC, während Songs wie "Cloudbreath" - ein völlig durchlässiges und schwereloses Ambient-Instrumental - oder "000" sich so weit draußen in den Obertönen bewegen, dass sie nur schwer zu erfassen sind. Das ist der Plan: die Zwischenwelten besetzen und niemals die Schwingung unterbrechen. Mir scheinen hier speziell Hunters Gesangslinien von großer Bedeutung zu sein, operieren sie doch besonders in den experimentellen Stückes des Albums nicht selten im Verborgenen. Sie erwecken den Anschein, als seien sie just in den Momenten erfunden worden, in denen die Musikerin sich zunächst in Trance versetzte, bevor Produzentin Cicely Goulder den Aufnahmeknopf drückte. So unmittelbar wie vergänglich. Eigentlich weiß man nie so recht, was man gerade gehört hat. Aber je tiefer sich die Verbindung zwischen "Lovegaze" und der eigenen Realität ins Bewusstsein eingräbt, desto stärker lichtet sich die Konsternation. 

Wir kommen schon wieder einfach nicht drum herum - wir brauchen Zeit. Und Geduld. Und vielleicht am Wichtigsten: Gefühl.





Erschienen auf Fat Possum Records, 2024.