25.12.2015

Talkin' 'bout my Generation




GUNS N' ROSES - CHINESE DEMOCRACY


Yep, I fuckin' did it. 

Im Sommer musste an diesem einen Tag die Sonne wohl besonders stark über dem Stuttgart Kessel brennen. "Chinese Democracy" stand für 20 Euro im Second Hand-Spezialfachgeschaft für Tonträger herum, hatte einen riesigen Knick in der oberen rechten Ecke und ein kleiner Teil des Vinylrands war auch noch aus der ersten Platte herausgebrochen. Mein Hirn, vermutlich längst zu einem 180°C Umluftofen mutiert, gab mir den Feilschbefehl, ich handelte den Tresenmann noch auf 15 Schleifen runter - und stolzierte wie Pepé le Pew zurück ins Hotel und zuvor mit dem skeptisch dreinblickenden Herrn Jens auf die Terrasse eines Stuttgarter Restaurants. Das war kein Schnäppchen, die Platte gibt es mit ein wenig Glück zum selben Preis noch neu und ungeöffnet im Weltnetz. Aber das Weltnetz ist nicht der Plattenladen, und im Weltnetz scheint die Sonne auch nicht so stark, dass sie einem das Dach verwellt. 

Das alles wird noch ein Eckchen absurder, wenn ich jetzt noch bekenne, die CD-Version des Albums, die ich natürlich kurz nach der Veröffentlichung im Winter 2008 hektisch kaufte, in der großen CD-Verramschung schon 10 Monate später wieder für den Preis von ganzen vier Euro aus dem Regal schmiss. Ich behaupte nicht, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe, aber ich kann es erklären.

Vielleicht.

"Chinese Democracy" gehört zu meiner Generation. Genau genommen gehört das Warten auf "Chinese Democracy" zu meiner Generation. Und deren Säulen waren eben nicht nur die heiligen drei Könige "Nevermind", "Ten" und "Dirt", selbst durch den Heroinschleier des Grunge erkannten wir auch noch die einst kräftigen, jetzt dank des rauhen Seattle Klimas etwas ramponierten Pfeiler "Appetite For Destruction" und "Use Your Illusion". Und die von Jack Daniels, Marlboro und Haarspray benebelten Typen, die zu "November Rain" die ein oder andere Träne verdrückten und sich zu "Welcome To The Jungle" an Kronleuchtern über die ausgelassen feiernden Partygäste schwangen, fieberten immerhin in den ersten Jahren nach der vorläufig letzten Veröffentlichung "The Spaghetti Incident?" trotz der abgewanderten Aushängeschilder wie Slash, Izzy Stradlin und Duff McKagan dieser Platte entgegen, knietief und mitten im Alternative- und New Metal-Schlamm stehend, leicht orientierungslos. In der zweiten Hälfte der Neunziger kippte dann die Stimmung: immer wieder angekündigt, immer wieder mit festen Releaseterminen versehen - immer wieder verschoben. Und verschoben. Und wieder verschoben. "Chinese Democracy" wurde zum Running-Gag. Irgendwie spürten wir auch, dass die Zeit für Guns N' Roses vorbei war, denn die neuen Helden hatten andere Namen und andere Kleider. Und sie machten andere Musik, ganz andere Musik. Axl bekommt bestimmt eh nichts mehr auf die Kette, ganz alleine auf weiter Flur und ohne seine alten Sidekicks sowieso nicht. Völlig durch, der Typ. Diese Drogen. Dieser Alkohol. Schizophren soll er ja auch sein. Oder bipolar. Irgendwas im Kopf halt. Das wird nix mehr. Wir müssen weiterziehen. 

Und irgendwann waren Guns N'Roses, war "Chinese Democracy", war Axl Rose vergessen. Wer spielt da eigentlich gerade? Ist doch egal! Gibt's die überhaupt noch? Ist doch egal! Die haben ja neulich ein großes Festival gespielt. Echt? Ist doch egal. Und es stimmt, irgendwann war es wirklich egal. Weil man eben tatsächlich weitergezogen war. "Chinese Democracy" nützte die Indifferenz nichts. Längst zu einem Mythos geworden, einem Sinnbild für gescheiterte, an Drogen und Alkohol zerbrochene Rocker, für verblasste und verklärte Erinnerungen, für Größenwahn und Verschwendung. Und natürlich für eine enttäuschte Generation von Rockfans, die mit dem diffusen Gefühl kämpfen musste, auf eine tragische Art betrogen worden zu sein. Das kann in einem Umfeld, in dem der mächtige weiße Ritter des Rock regiert und das auf einer zwar inszenierten, aber doch aufrichtig vorausgesetzten Ehrlichkeit und Loyalität aufbaut, nur in die Hose gehen. 

Als "Chinese Democracy" tatsächlich nach über etwa fünfzehn Jahren Produktionszeit und geschätzten Kosten in Höhe von über dreizehn Millionen Dollar im November 2008 erschien, hagelte es Schimpf und Schande seitens der Presse und der Fans. Ich habe es in meinen 30 Jahren als Musikbesessener noch nie erlebt, dass eine Platte eine so umfassende, fast weltweite Ablehnung erfuhr, die sich in der Schnittmenge von "Das wird bestimmt ganz grauenvoll schlecht." und dem ganz tief im Unterbewusstsein vergrabenen Wunsch nach der Rettung des Rock darstellte. Aber bekam "Chinese Democracy" jemals wirklich eine Chance? Ich glaube nein. Diese Platte hätte nicht gewinnen können; es hätte vielleicht niemals den richtigen Zeitpunkt der Veröffentlichung gegeben. Selbst in den neunziger Jahren war es eigentlich schon zu spät. Ich habe mit meinem neuerlichen Kauf im Sommer 2015 den wenigstens für mich richtigen Zeitpunkt erwischt, denn ich hatte immer das Gefühl, dass, haben sich die Aufregung und die Enttäuschung gelegt, haben sich die Wunden wieder geschlossen, mehr hinter "Chinese Democracy" steckt. Dass es etwas zu Entdecken gibt. Dass das Album kolossal unterbewertet ist. Und tatsächlich: man hört mit sieben Jahren Abstand klarer. Nebenbei darf man sich auch mal schnell klar machen, wie lange sieben Jahre sind: der erste offizielle Albumstream wurde auf der - Achtung, aufgepasst: MYSPACE Seite der Band freigeschaltet. 

MySpace. Laugh to come. 

Ich war indes auch schon 2008 nicht so irre enttäuscht wie manch anderer. Es war eben "Uff, Rockmusik", noch dazu verpackt in einem überlangen Album - und gerade in meiner, sagen wir mal: experimentellen Phase im Jahr 2008 riss mich sowas wirklich nicht vom Hocker. Musikalisch hatte ich bis dato wahrlich Schlimmeres gehört; im Falle von "Chinese Democracy" und der seit Jahren damit in Verbindung gebrachten Schreckgespenster wie "Industrial Rock" und "Alternative Rock" hatte ich sogar weitaus Schlimmeres erwartet. Die Band schrieb in den jahrelangen Sessions insgesamt über 60 Songs für drei geplante Alben und nahm die für "Chinese Democracy" ausgewählten Tracks bis zu sechs Mal neu auf. Die Liste von Produzenten, die über die Jahre verteilt mal auf dem Mischpult-Thron saßen, ist eindrucksvoll lang und enthält unter anderen Namen wie Roy Thomas Baker, Bob Ezrin, Andy Wallace, Youth, Moby, Mike Clink und Tim Palmer, während die Aufzählung der beteiligten Engineers hingegen gar das Format dieses Blogs sprengen würde. Man besuchte für die Aufnahmen ganze 15 Studios und buchte Gastmusiker wie Dave Navarro, Sebastian Bach und Brian May, der 1999 ein Solo für "Catcher In The Rye" einspielte, das sich letzten Endes nichtmal auf der Platte befindet. Gerüchten zufolge wurden bis zu 250.000 Dollar pro Monat für Equipment verprasst, und Geffen entfernte das Album 2005 gar komplett von ihrem Veröffentlichungsplan:

"Having exceeded all budgeted and approved recording costs by millions of dollars, it is Mr. Rose's obligation to fund and complete the album, not Geffen's."

Bassist Tommy Stinson hob in Bezug auf die lange Wartezeit in einigen Interviews Axl Rose' demokratischen Anspruch für das Songwriting hervor:

"It's a lengthy process because you have to get eight people to basically write a song together that everyone likes. 

Und ein beteiligter Engineer sagte zu Rose' Perfektionismus:

"Axl wanted to make the best record that had ever been made. It's an impossible task. You could go on infinitely, which is what they've done."

Das Image von Axl Rose, er sei ein peinlicher Redneck, ein kaputter Diktator, ein Faulpelz, der die letzten Jahre mehr mit Drogen und Frauen beschäftigt war als mit Musik, muss nach der Beschäftigung mit den Geschichten, die diese Platte umranken, sicherlich neu gezeichnet werden. Schwieriger Typ, labil, größenwahnsinnig, zu Kurzschlusshandlungen neigend? Kann sein. Ein musikbesessener, sensibler Künstler, ein manischer Perfektionist mit großer kreativer Kraft und einer genauen Vorstellung davon, wie seine Band und seine Musik klingen soll? Ganz bestimmt. Dafür holte sich Rose über die Jahre die creme de la creme in seine Band. Rein musikalisch rauchen die neuen Guns N' Roses alleine mit den Gitarristen Bumblefoot und Buckethead einen gewissen Saul Hudson in der Pfeife, ganz besonders Buckethead spielt einige geradezu umwerfende Soli auf dieser Platte, zum Beispiel auf "There Was A Time", nachzuhören auf dieser Instrumentalversion:




Die größte Überraschung auf einem über weite Strecken brilliant komponierten Album ist allerdings die Zeitlosigkeit des Songmaterials und damit war nun wirklich nicht zu rechnen: geschrieben und aufgenommen vor der Jahrtausendwende, lässt sich bemerkenswert wenig Patina finden. Selbst die elektronischen Spielereien, die sowieso deutlich zurückhaltender eingesetzt wurden als man es durch die Berichterstattung im Vorfeld erwarten konnte (die allerdings auch nur die durch Leaks veröffentlichten Songs kommentierte, die, wir lernten es einige Zeilen weiter oben, zig Mal neu arrangiert und aufgenommen wurden und sich somit durch mehrere Stadien durcharmorphelten), haben zwar noch einen Hauch der 90er Jahre im Atem, sind aber streng genommen so gut eingepasst und bearbeitet worden, dass wir weit davon entfernt sind, die Songs auf dieser Basis zeitlich einordnen zu können. Das ist keine altbacken klingende Platte. Und es ist auch keine hypermodern klingende Platte - diese eine Handvoll Gitarrenriffs, die einen ganz dezenten Industrial Rock-Charakter in der DNA haben, wobei wir auch gerne darüber diskutieren können, ob Industrial Rock 2008 noch so schrecklich "modern" war, sind vernachlässigbar und auch hier: in ein durchaus klassisches Rockkonzept eingesetzt worden. Alle seitens einer auflagen- und sensationsgeilen Presse geschriebenen Übertreibungen in diese Richtung sind kompletter, unseriöser, quatschbekleckerter Bullshit. 

Ich kann nicht sagen, dass ich Fan von Guns N'Roses bin. Die Band ist heute mehr Marke als Musik, wirkt live weniger kraftvoll als wie die am Nasenring durch die Manege gezogene und fast stoisch agierende Sensation (mit den drei Köpfen), zieht damit dementsprechendes Prosecco-Paradise City-Publikum an - und dass einer wie Rose diesen Rock'n'Roll-Krempel immer noch mit macht, mit Cowboyhut und -stiefeln, zerrissenen Jeans, Sonnenbrille und Beer'n'Barbecue Wampe, nimmt manchmal durchaus tragische Züge an. Dass man vielleicht trotzdem mit dem ein oder anderen Vorurteil gegenüber der Person Axl Rose auf der einen, und ganz bestimmt gegenüber dieser Platte auf der anderen Seite aufräumen kann, soll, darf und muss, ist in meinem Buch völlig legitim. 

Ich mag diese Platte. Sie ist gut. Sieht Slash übrigens ähnlich. Also Haken dran. 

"It's a really good record. It's very different from what the original Guns N' Roses sounded like, but it's a great statement by Axl... It's a record that the original Guns N' Roses could never possibly make. And at the same time it just shows you how brilliant Axl is." (Slash)


Veröffentlicht auf Geffen, 2008.


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