19.08.2008

Halb zog es ihn, halb sank er dahin...



Auch das ansonsten so geschmackssichere Blue Note-Label erlaubt sich hier und da einen Ausrutscher. Auch wenn jener, der sich auf Lee Morgans "The Procrastinator" bezieht, nicht in erster Linie ein musikalischer, sondern zunächst mal ein geschäftlicher Lapsus ist. Das Label konnte auf dieser, im Juli 1967 aufgenommenen Scheibe unverschämterweise keinen Hit entdecken und verstaute die Aufnahmen im Giftschrank, ehe das Werk 1978 zum ersten Mal den Weg in die Läden fand. Ganze 17 Jahre später wurde es als limitierte Edition wiederveröffentlicht, auf der dann aber unsinnigerweise die Hälfte der Originalausgabe fehlte, nämlich eine Session aus dem Jahre 1969, unter anderem mit Julien Priester (Posaune) und George Coleman am Saxofon. Zumindest kann man damit den Gegenbeweis für die These antreten, früher sei in Sachen Musikbusiness alles besser gewesen. War es nicht.

Lee Morgan, der in den Jahren zuvor unter anderem bei Art Blakeys Jazz Messengers, der Band von Dizzy Gillespie und auf letztlich wegweisenden Klassikern wie Grachan Moncurs "Evolution" mitwirkte, hat für diese Platte die crème de la crème des Mid-60s Jazz und nicht weniger als drei Musiker der damaligen Miles Davis Band um sich versammelt. Gemeinsam mit Herbie Hancock (Piano), Wayne Shorter (Tenor Sax), Bobby Hutcherson (Vibraphon), Ron Carter am Bass und Billy Higgins am Schlagzeug präsentiert er sich im Vergleich zu seinen erfolgreichsten Jahren mit Werken wie "The Sidewinder" oder "The Rumproller" deutlich gereift, ja geradewegs zurückhaltend und bietet einen Hard Bop an, der in seinen besten Momenten die Schwelle zur Avantgarde streift und ansonsten mit erstaunlicher Tiefe und gehörigem Swing ausgestattet ist. Die vier Morgan- und zwei Shorter-Kompositionen (die wunderbare Ballade "Dear Sir" und der Bossa Nova "Rio") sind in ihrer Geschlossenheit und ihrer Souveränität ungeschlagene Perlen des modalen Jazz, zu gleichen Teilen beschwingt und hypnotisierend. Besonders letztgenannte Komponente dürfte sich in den meisten Morgan-Alben der sechziger Jahre wiederfinden.

Dass "The Procrastinator" moderner klingt als Morgans frühere Arbeiten liegt für meinen Geschmack explizit an der Beteiligung Bobby Hutchersons. Besonders sein Spiel führt die bluesigen Ansätze des Trompeters in einen tiefroten Rau(s)ch, wärmt sie und verleiht ihr einiges an mystischem Flair, das sich durch die komplette Aufnahme zieht. Dazu passt Shorters ebenfalls sehr überlegtes, zurückgenommenes Spiel und das kluge, begleitende Drumming von Billy Higgins, der sich nie in den Vordergrund drängt, sondern sich perfekt den Songs anpasst und sie abrundet.

Möglicherweise wäre Lee Morgan, der Zeit seines Lebens wie viele seiner Musikerkollegen dem Heroin nicht immer abschwören konnte, heute eine der bekanntesten und schillerndsten Figuren des Jazz, wäre er nicht 1972 während eines Streit mit seiner damaligen Freundin vor dem New Yorker Jazzclub Slug's von ebenjener erschossen worden. Aber spekulieren wir nicht weiter wild herum, lassen wir lieber den trivialen Quatsch beiseite und freuen uns, dass es von diesem Mann noch eine ganze Reihe fantastischer Platten zu entdecken gibt. "The Procrastinator" ist einfach viel zu gut, um es dem großen Nichts, dem großen Vergessen anzuvertrauen.


"The Procrastinator" ist im Jahre 1978 auf Blue Note Records veröffentlicht worden. Der hier präsentierte Re-Release erschien im Jahre 1995 ebenfalls auf Blue Note Records.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.